Im Westwind (Entwurf für ein Hörspiel)

 

 

Wer den Regenwurm mit dem Finger zerdrückt, erhält eine elektrische Kraft.

 

Wer eine Nadel in die Hand nimmt, den verfolgt das Gewitter.

 

Wer eine hohle Nuss aufmacht, hat Pech gehabt.

 

Ihm nachzuspüren, ist schwierig, und der Versuch, ihm näher zu kommen, führt in die denkbar grösste Verwirrung. Scheu duckt er sich weg, sobald man sich ihm zuwendet in irgendeiner ihn betreffenden Absicht. Sobald man sich für ihn interessiert. Den Abstand zum Stollenmenschen verringert jedes Zeichen oder Wort, das ihn meint. Er will aber nicht gemeint sein, nicht von uns, sein Unbehagen am Menschsein treibt ihn unausgesetzt in die Flucht.

 

Das Holzfräulein von Rippensporn hat eine Rippe zuviel. Die überzählige Rippe des Holzfräuleins von Rippensporn nennt man Stigelibei.

 

Auf der halbbeschneiten Wiese hinter dem Haus brechen die stumpfmützigen Erdarbeiter die hartgefrorene Erde auf, stechen sie Meter für Meter um. In ihren Arbeitspausen, wenn sie aus ihren Mützen die Zigaretten und Zündhölzer herausschütteln und sich zum Rauchen kurz hinsetzen, hören sie ein Klappern und Klacksen von etwas, das nur lose befestigt ist. Etwas Herabhängendes schlenkert geräuschvoll in der Luft. Das Geräusch ist lauter als das Klingeln einer Papierglocke, aber genauso unmöglich.

 

Sickerlöcher, Versickerungen und Ableitungen, ein Gerinne im Grund, eine Klärgrube, die wasserdurchlässigen Schlammböden, die Schwemmablagerungen im Riedgras, die Quellwassertröge, die gut verschraubten Zu- und Ableitungen des Reservoirs, der Filterrohrbrunnen, die feinsandigen Rückstände im Abflussbereich, die mit Nasenauswurf beschmierten Huflattichblätter, der schuhsohlengerillte Pfützenlehm...

 

Die nach Osten stechenden Wege, der nachmittägliche Dunst, der weitausholend ins Nachbarland hinausstossende Waldbezirk, der über den Weg gespannte Zwirnfaden, die locker wachsenden Bäume, die am Buchenholz sich festfressenden Schwämme....

 

Einer, der den Zitteri hat. Einer, der im Dunkeln lacht. Einer, der im Dunkeln leuchtet. Einer, der sich ganz, ganz dünn macht. Einer, der andauend Hoppla sagt. Einer, der nirgendwo hinkommt. Einer, der eine Leiter anstellt, wo gar nichts ist, an das man eine Leiter anstellen könnte. Einer, der unverdünnten Schnaps trinkt.

 

Wenn die Postlehrtochter mit dem Wägelchen kommt, ist es zehn Uhr.

 

An mässig steilexponierten Hängen sind die Böden hoffnungslos verkrautet.

 

Die Waschküchenbenutzung ist streng geregelt.

 

Kann es sein, dass sich die Linie von hier nach dort ganz plötzlich verkürzt hat?

 

Viel zu reden und zu schreiben gibt es allemal.

 

Zweiter Versuch, diesmal mit Reim: es gibt gar viel zu reden und zu schreiben. Man darf es nur nicht übertreiben.

 

Im Westen zieht Regen auf.... Aus dem Westen kommt es schwarz, schon blitzt es grünlich über die rauschenden Bäume hinweg.

 

Der Griff nach der Türklinke ist ein Missgriff. Bleiben wir zu Hause.

 

Nun hat sich das Holzfräulein von Rippensporn ein Rippenbrüchlein geholt.

 

Die Klagen, die man weiterherum zu hören bekommt, sind mit einem gewissen Vorbehalt aufzunehmen. Es ist nicht alles so schlimm, wie es scheint. Womöglich ist es sogar noch viel schlimmer.

 

Die unübersichtlichen, weitausholend ins Nachbarland hinausstossenden Waldbezirke verschwimmen im nachmittäglichen Dunst. Kletternd erreicht man die Höhe. Die Höhe ist anstrengend, macht aber nicht schwindlig. Das Hinuntersteigen ist dann wieder eine ganz andere Sache. Ich sage das ohne Schadenfreude.

 

Dieser höchste, nicht sonderlich vorragende Punkt in der Landschaft ist mit einem kleinen Hölzchen gekennzeichnet, damit man ihn nicht übersieht. Und das Hölzchen ist mit einem roten Streifen bemalt, damit man es nicht verwechselt mit all den andern Hölzchen auf all den andern Aussichtspunkten.

 

Wer hat die Wegweiser versetzt? Und wozu?

 

Durch ein Fenster, das er soeben geputzt hat, blickt Herr Müllermann nach draussen. Er denkt: wie sauber ist doch das Glas, das ich geputzt habe. Nur schade, dass man es jetzt nicht mehr sehen kann. Es scheint verschwunden zu sein.

 

Über den Weg könnte ein Zwirnfaden gespannt sein. Also aufgepasst... In dieser Hinsicht ungefährlich sind die vielbetretenen Wege des Ostens. Wo ein ordentlicher Weg ist, ist auch ein Wille: da braucht man keinen Umweg zu machen. Da gibt es auch keine Wollwölfe.

 

Die Absichten versiegen, die Zwecke gehen ins Blaue, das ganze Bestreben, das uns hier und jetzt in Beschlag nimmt, ist keinem schon bestehenden Ziel zugekehrt, das ganze Bestreben kreist in sich selbst, weshalb es sich nach und nach verflüchtigt. Seine Zeit wird noch kommen.

 

Die Hügelzone ist mehrheitlich bewaldet, die Waldzone mehrheitlich hügelig. Um der gesetzlich vorgeschriebenen Waldpflege nachzukommen, muss man sehr viel Zeit aufwenden. Die Bodenfläche ist desto grösser, je mehr Hügel vorhanden sind. Sanfte Hügel, steile Grate, felsige Abstürze, sonnige Felsköpfe, schattige Gräben, langgezogenes Kulturland, weiche, samtschwarze, poröse, erdige Erde...

 

In einem Kerngebiet von rund 1,5 Hektaren liegen die Arsenwerte weit über dem gesundheitlich Zulässigen. Fast ebenso hoch sind die Thalliumwerte. Die Belastung stammt aus einer natürlichen Schicht aus Brauneisenerz. Ohne jedes Störgeräusch schiebt sie sich nach oben, etwas Bräunliches, Glimmeriges, Schwärzliches, mit sanften Pressungen und völlig lautlos schiebt sie sich nach oben, schiebt sich nach oben ohne jedes Zerbrechen, Zerschlagen, Zertrümmern, Umwälzen, Rütteln, Schütteln und Stossen. Da und dort liegt das Gestein schon zugänglich da und zerbröselt im Wind. Vergiftungserscheinungen und magnetische Anomalien sind hier nichts Besonderes, und die Ursachen hierfür sind eindeutig nichtmenschlicher Natur. Sie liegen in der Natur.

 

Weil die Bäume so locker wachsen, fällt sehr viel Licht ein. Weil sie so tief und raumgreifend wurzeln, wachsen sie so hoch hinauf.

 

Die starken Regenfälle, von denen noch zu reden sein wird, verwandeln die Erde in einen Wurmsalat.

 

Einer, der direkt aus dem Kochtopf isst. Einer, der mit dem rechten Fuss vorangeht. Einer, der ohne Brille seine Brille nicht findet. Einer, der die Wolken zählt. Einer, der sich auf der Schaukel zum Himmel hochschwingt.

 

Zwei alte Damen - sie heissen Resi und Rösli - sitzen auf einer Aussichtsbank. Sie blicken nach oben. Eine gipsweisse Scheibe, die immer grösser und bedrohlicher wird, füllt schon den halben Himmel. Lässt die Haare knistern.

 

Die Waldstatthalter freuen sich über die mustergültig ausgeschilderten Wanderwege. Unsere Heimat, sagen sie, kann sich sehen lassen.

 

Für die sonderbaren Erscheinungen, von denen hier die Rede ist, hat man viele Ursachen angegeben. Doch wir übergehen diese Ursachen, um uns nicht unnötig aufzuregen, und schreiten nun ganz gelassen zur Nennung und Verzeichnung der uns viel näherliegenden alltäglichen Tatsachen über.

 

Alle festen und flüssigen Bestandteile der Erdoberfläche sind in immerwährender Verdunstung.

 

Bis jetzt ist kein Fall so vollständig beobachtet worden, dass sich hieraus ein zuverlässiges Resultat ergeben hätte. Würde sich irgendwann im Verlauf der weiteren Untersuchungen ein Resultat ergeben, das man als zuverlässig bezeichnen könnte, so würde es erwartungsgemäss alle Erwartungen sprengen und die Fachwelt in grenzenloses Erstaunen versetzen.

 

Die Futterscheunen leer, die Stallungen verwaist, die Bauern tot, das Vieh krepiert, die Brunnen versiegt, die Windräder still, die Kopfkissen gerupft, die Funkgeräte verstummt, die Kassen geplündert, die Schulbücher zerfleddert, die handschriftlichen Eintragungen lückenhaft, die Tage abgewedelt, die Nächte verfrüht, die Nordlichter zu weit südlich.

 

Die knallenden Entladungen, die Vogelrätsche, das Feuchtfeuer, das Leuchtfeuer, das Kreuchfeuer...

 

Die Verwicklungen und Wirrungen in der Natur liegen einzig und allein in den Unvollkommenheiten unserer Beobachtungsgabe. Im Prinzip, so könnte man vielleicht sagen, ist alles entwirrbar.

 

Menschen, die durch diese Gegend gehen, berichten von empfindlichen Temperaturschwankungen, von plötzlichen Abkühlungen, und sie berichten von Sichtungen, von schwankenden Gestalten im Nebel, von Ziehharmonikawolken und riesigen Kisten mit schlecht zersägtem Altholz. Und von winzigen Krustentieren, die sich beim Herannahen menschlicher Schritte knurrend ins trockene Laub hineinwühlen.

 

Der alles durchblasende Wind treibt ein Regen von Blättchen hervor...

 

Wasseradern durchziehen das Gelände.

 

Wie verhält man sich bei Regenwetter? Man beschmiert die Türklinke mit Nasenauswurf. Und zweitens wischt man die Klinke wieder ab.

 

Der Schwan ist natürlich. Der Schwan ist natürlich natürlich. Der Schwan ist natürlich naturdenkmalgeschützt.

 

Um den nicht namentlich bekannten Landfrevler davon abzuhalten, das Land zu verwüsten, hat man um die Hügel Teer- und Leimringe gelegt, an denen er hoffentlich kleben bleibt.

 

Frühmorgendliches Vogelstimmenwandern, erfrischendes Luftholen, Luftschöpfen, schönes, beschwingtes Beisichsein... Und dann doch nichts als das ganz gewöhnliche Tageslicht, das man irgendwie hat kommen sehen.

 

Der frühe Vogel fängt den Wurm. Der späte Vogel hängt im Sturm.

 

In Erwartung eines saftigen Sonntagsbratens begeben wir uns zu Tisch. Wir greifen nach den steifen, scharfkantig gebügelten Servietten, falten sie behutsam auseinander. Und nun? Auf dem glätteisenwarmen Tischtuch ist der Sonntagsbraten noch gar nicht so richtig ausdefiniert. Man sieht ihn nur verschwommen - und riecht ihn kaum.

 

Was tut man nicht alles, um aufzufallen? Eine der vielen anwendbaren Methoden besteht darin, dass man sich einen Obstkorb über den Kopf stülpt. Eine andere, nicht minder praktikable Methode besteht darin, dass man ein Modewort ausspricht, das zu wenig hergibt. Zäh erhalten sich die Eigenheiten, man könnte auch sagen Wunderlichkeiten einer zurückgebliebenen Wesensart. Sticht man mit der Gabel in eine dicke Wurst, spritzt ein Saftstrahl heraus. Im geschlossenen Wald ist es unzweifelhaft stickig und eng. Erinnerungen rattern in langen Streifen durch einen Vor- führapparat. Das Heraufrufen von Erinnerungen. Der prüfende Blick durch eine Glasmurmel. Das Festhalten eines unwiderbringlichen Moments. Von einer im Winter durchgestandenen Grippe erholt man sich erstaunlich schnell. Auf Anhieb genannt wird ein Ding nur dann, wenn es klar in Erscheinung tritt. Scherzend herumgeboten werden Sprüche, die man sich merken kann. Von unschätzbarem Wert ist alles, was sich zu Geld machen lässt. Gut gemeinte Mah- nungen sind in den Wind gesprochen. Beim Singen auf die Instrumentalbegleitung zu verzichten, ist ja schon mal etwas. Wer sich mitverantwortlich zeigt, indem er mitanpackt, ist auf alle Fälle aus dem Schneider. Und dem Telefonbuch entnimmt man, wieviele Anschlüsse installiert sind.

 

Tagsüber gehen die meisten Menschen einer Beschäftigung nach. Abends, in ihren kleinen, mobiliarversicherten, schornsteinrauchenden Häusern, stopfen sie sich beim Fernsehgucken die Faust in den Mund.

 

Wer das Nichtstun mit einer gewissen Lässlichkeit betreibt, tut eigentlich nicht nichts. Der tut eine ganze Menge, tut also mengenmässig viel. Mit einem einzigen Griff holt man sich die Welt in den Kopf, stopft sie sich in den Kortex. Und fertig ist die Welt, fertig ist ihr Angesicht.

 

Die Sitzung der Waldstatthalter leidet an manchen Unförmlichkeiten. Die Zeit wird ihnen lang, und es kommt, wie es kommen muss: im Streit gehen sie auseinander.

 

Jemand hat das Tor offengelassen. Ein kalter Wind weht herein. Durch den Wald wankt der Stollenmensch mit einem Geheul. Es hat uns aus seiner Nähe gedrängt. Niemand spricht über ihn, niemand zeigt auf ihn. Wir haben die Flucht ergriffen, sind nach Hause gerannt. Das schwere Tor schliessen wir mit unsern vereinten Kräften, und die Fensterläden lassen wir reihenweise zuknallen.

 

Das düstere Kleid macht ihn unkenntlich und in der Nacht ganz und gar unbemerkbar.

 

Ein einziger von den sagenhaften Riesenhirschen hat die Eiszeit überlebt. Auf den grünen, zerschürften Hängen, die der Gletscher freigegeben hat, rupft er das spärliche Gras unter dem Gewicht seines Riesengeweihs.

 

Es gibt Dinge wie Wasser und Wind, die fast immer da sind. Es gibt aber auch Dinge, die immer mehr vom Erdboden verschwinden. Es gibt Dinge, die man sich leicht und gerne abgewöhnt, vielleicht, weil sie schädlich sind, vielleicht aber auch, weil sie nirgendwo hinführen und nirgends erwähnt werden.

 

Und nun zu uns selbst, zu dem, was wir sind. Der Mensch erreicht aufrechtstehend eine Höhe von ungefähr 2 Metern. Vorausgesetzt er gibt sich ein bisschen Mühe. Stundenlanges Umhergehen macht ihn müde. Die Beine bilden das Hauptwerkzeug der Fortbewegung. Durch den Einsatz der Beine - und zwar beider Beine - kommt der Mensch in Fahrt, aktiviert sich horizontal. Der Mensch nimmt als Frühstück 2 Teller Haferflocken, 2 Pfund Fisch, 1 bis 2 Pfund Koteletten, 8 bis 10 Brötchen und 6 bis 8 Tassen Kaffee zu sich. Er schläft auf 2 Matratzen, die er vor dem Zubettgehen so zurechtlegt, dass sie zusammengenommen 4 Meter lang sind. Tagsüber sitzt er auf einem Tisch, der auf einem Tisch steht, der auf einem Tisch steht. Der Mensch wächst mit seinen Herausforderungen. Für manches Problem findet er die ideale Lösung. Flackert eine Glühbirne, wechselt er sie blitzschnell aus. Man sieht kaum, wie er die neue Glühbirne hineinschraubt, so schnell geht es. Der Mensch hat eine praktische Veranlagung. Und er traut sich allerhand zu. Sonst wäre er kein Mensch.

 

Das klapprige Einachser-Traktörchen, die gewalzte Fernlandstrasse, der fettverschmierte Bratrost, der angekokelte Holzstiel, Viehsalz in Form von Lecksteinen, der Rosthaufen, das wacklige Stangenholzgestell, die puffende Bohrlochpumpe, die schrumpelige Brennkirsche, die heimliche Schnapsgewinnung, die aufgelassene Kiesgrube, die herbizidfreie Wiese, die zerknautschte Brotpackung, Holz mit Fäulniserscheinungen, Holz mit zugeheilten Biss- und Schnittwunden, der kratzige Weissdornbusch, das frisch gewaschene Auto...

 

Wer sich mit dem blanken Hintern auf die gefrorene Erde setzt, spürt den Frühling als Erster.

 

Wer einer statisch aufgeladenen schwarzen Katze ein einzelnes Haar entreisst und dieses in die Hosentasche steckt, wird Glück im Unglück haben.

 

Wer nachts das Wort Stigelibei ausspricht, sollte hinterher sofort dreimal niesen: sonst ist alles vergebens.

 

2013