Religion und Wahnsinn

 

Eine Erwiderung auf Richard David Prechts Atheismus-Kritik

 

Wer nicht ganz richtig im Kopf ist, sieht Geister und Dämonen. Er sieht mehr als die Allgemeinheit, und vielleicht sind solche Menschen in frühen Stammeskulturen dazu ausersehen gewesen, die Rolle von Schamanen und geistigen Autoritäten zu übernehmen. Wenn der Blitz einschlug, musste jemand erklären können, was das zu bedeuten hatte. Dieser Jemand war natürlich ein Mensch mit Phantasie, ein Mensch mit Visionen, der womöglich ein bisschen anders tickte als seine Mitmenschen, aber durchaus imstande war, sie mit seinem Anderssein zu begeistern - oder einzuschüchtern. Die Evolution hat den religiösen Wahnsinn zugelassen, weil er sich für das menschliche Kollektiv als nützlich erwiesen hat, zumindest innerhalb der engen Realitätserfahrung von kleinen und einfach strukturierten Gesellschaften. Aber je komplexer sich eine Gesellschaft ausgestaltet und je grösser und vielfältiger ihr Wissen über die Welt wird, desto fragwürdiger wird der religiöse Zusammenhalt. Im heutigen Weltverständnis ist Religion kaum noch hinnehmbar: sie entlarvt sich als Urzeitreflex, als Bestandteil eines tief verwurzelten Hordentriebs, einer instinktgesteuerten Autoritätsgläubigkeit, die wir uns angesichts globaler Probleme schlicht nicht mehr leisten können. Religionen können nichts dazu beitragen, diese Probleme zu lösen, im Gegenteil. Sie vergiften die Welt mit Hass, Rückständigkeit und Elend. Richard David Precht, momentan der angesagteste Salonphilosoph in deutschen Landen, hat Unrecht, wenn er den Polemikern des neuen Atheismus - allen voran Richard Dawkins - maliziös unterstellt, sie seien im Grunde genommen genauso fundamentalistisch wie ihre Gegner - einfach ohne Gott. (Talk in der SRF-Sendung "Sternstunden Philosophie" vom 27.12.2009) Kämpferische Atheisten und religiöse Fundamentalisten sind also vom gleichen blinden Glaubenseifer beseelt? Aber lieber Herr Precht, das ist erstens falsch, und zweitens ist das gar nicht der Punkt, auf den es hier ankommt! Sie als Philosoph sollten das eigentlich wissen. Die Tatsache, dass jemand eine Überzeugung hat, verrät noch nichts über die Qualität dieser Überzeugung. Wer hätte nicht irgendeine Überzeugung? Die Frage ist doch: welche Überzeugung? Und die Frage ist auch: was steckt hinter dieser Überzeugung? Argumentiere ich aus einem blinden Glauben heraus oder kann ich meine Argumente rational begründen? Richard Dawkins trifft mit seiner Religionskritik vor allem deshalb ins Schwarze, weil er keinen einzigen Gedanken äussert, der nicht rational nachvollziehbar wäre. Die von Precht unterstellte Symmetrie zwischen dem Chefatheisten und seinen Gegnern existiert nicht. Während nämlich die religiösen Fundamentalisten durch die klare Argumentation von Richard Dawkins zumindest theoretisch in die Lage versetzt werden, die Absurdität ihrer Glaubenssysteme zu durchschauen, ist es dem Wissenschaftler Richard Dakwins unmöglich, irrationale Überzeugungen zu teilen - oder auch nur gutzuheissen. Dies zu tun, würde für ihn (und letztlich uns alle) bedeuten, dass eins plus eins auch drei geben kann. Für die Wissenschaft und unser aller Zusammenleben wäre dies verheerend. Wenn die Hemmung entfällt, jeden Unsinn für bare Münze zu nehmen, öffnet man dem Irrsinn Tür und Tor. Man macht sich erpressbar, weil man den Irren das Recht einräumt, ihren Wahnsinn (den sie natürlich nicht als solchen durchschauen) mit einem unhinterfragbaren Geltungsanspruch auszustatten.  Bei dieser Art von Toleranz kann der Schuss gewaltig nach hinten losgehen. Meinungen zu tolerieren oder sogar in Schutz zu nehmen, die logisch, ethisch und wissenschaftlich nicht zu rechtfertigen sind, ist ein Spiel mit dem Feuer. Insofern steht Dawkins Haltung auf einer völlig anderen Grundlage als die Haltung seiner Gegner. Während Dawkins eine klare und für jeden nachvollziehbare Logik vertritt, verstricken sich seine Gegner fortwährend in Widersprüche und fallen auf die eigenen falschen (nicht realitätstauglichen) Prämissen herein. Sie stellen unreflektierte Behauptungen in den Raum, plappern ein tradiertes Gedankengut nach, das keiner ernsthaften Überprüfung standhält, und lassen durch eine "kritikimmune" Weltsicht (Hans Albert) jeden Einspruch auflaufen. Mit einem Affen kann man diskutieren, zum Beispiel mittels Zeichensprache: nicht aber mit einem religiösen Fundamentalisten. Wobei das Problem ja schon damit anfängt, dass es unzählige verschiedene Religionen mit unzähligen alleinseligmachenden Wahrheiten gibt. Religionen sind definitiv nicht das, was sie zu sein vorgeben. Sie können die Welt weder erklären noch hinterfragen noch die Bestimmung des Menschen auch nur einigermassen plausibel und allgemeinverbindlich definieren. Sie sind - um es postmodern auszudrücken - nicht diskursfähig. Stattdessen bleiben sie inhaltlich und ideologisch an ihre Ursprünge gebunden. Der Islam bleibt in der Wüste, und das Christentum bleibt im antiken Rom. Und hier haben wir denn auch eines der grössten Probleme, mit denen wir uns im 21. Jahrhundert herumschlagen müssen. Normen und Weltanschauungen vergangener Zeiten und Kulturen als überzeitlich und alleingültig auszugeben, ist ein ziemlich starkes Stück. Wieso lässt man sich das noch gefallen? Wieso darf man nach Newton, Darwin und Einstein noch irgendwelchen Schwachsinn für unantastbar erklären, der in einem angeblich heiligen Text steht? Mit welchem Recht darf man Wahnvorstellungen als “göttlich inspiriert” ausgeben? Wieso müssen blind tradierte Denknormen vergangener Epochen als heiliges Frachtgut behandelt werden? Genau dieses Problem bringt Dawkinks schonungslos auf den Punkt. Was Precht und viele andere Leute an Dawkins nicht ausstehen können, ist seine Unzimperlichkeit. Er lässt kein Hintertürchen offen, schiesst mit Kanonen auf Spatzen. Nicht einmal die an sich begrüssenswerte Sonntagsschul-Religiosität ("Es ist alles nur symbolisch gemeint") kommt bei ihm ungeschoren davon; ihr unterstellt Dawkins Naivität und Blindheit. Aufgeklärte Christen, sogenannte Sonntagsschul-Christen, tendieren laut Dawkins dazu, das Wesen und den Charakter von Religionen auf unzulässige Weise zu idealisieren. Sie verkennen die Gefahren. Damit düpiert er auch die Gemässigten unter den Religiösen und zieht sich den Vorwurf zu, ein Fanatiker zu sein, “mit dem man nicht reden kann”. Doch genau solche Reaktionen zeigen, wie berechtigt Dawkins Angriffe sind. Was Dawkins kritisiert und entlarvt, ist ja nicht das Ethos eines Gläubigen, der sich für die Armen und Schwachen einsetzt, ein Ethos, das man im übrigen auch bei den härtesten Atheisten findet, es ist vielmehr die Anmassung, unbewiesene und völlig irrationale Überzeugungen für sakrosankt zu erklären. Was natürlich auch an die Grundüberzeugungen mancher Normalgläubigen rührt, die, obwohl äusserlich mit dem Säkularismus versöhnt, "im Grunde ihres Herzens" das Welterklärungsmonopol der Naturwissenschaften ablehnen. Mit seiner Kritik erwischt Dawkins, was für die ganze Auseinandersetzung bezeichnend ist, nicht nur die Fundamentalisten, sondern auch die Gemässigten. Es gelingt ihm, schlafende Hunde zu wecken. Wer noch der Meinung ist, die "Normalgläubigen" könnten etwas gegen den Fundamentalismus ausrichten, ist im Gegensatz zu Dawkins weit davon entfernt, die Zeichen der Zeit zu erkennen. Zwischen Gemässigten und Radikalen werden Bündnisse geschlossen, heilige und unheilige Allianzen. Ein gutes Beispiel für diesen Trend ist “Die Nacht des Glaubens” in Basel, eine christliche Propaganda-Veranstaltung der Extraklasse. Das Spezielle und Anstössige daran: die protestantische Landeskirche schliesst sich mit den Freikirchen zusammen. Der wohl wichtigste Grund für diesen Zusammenschluss liegt in der abnehmenden Akzeptanz gegenüber der offiziellen protestantischen Kirche, die eine liberale und vernünftige Theologie vertritt. Eine Theologie mit Hirn, aber wenig Unterhaltungswert, wenig Erlebnischarakter. Vernunft lässt sich schlecht vermarkten, in einer kapitalistisch dynamisierten und spassorientierten Gesellschaft verliert eine Kopfreligion früher oder später ihren Sockel. Der moderne Protestantismus siecht vor sich hin. Da ihm die Kirchgänger scharenweise davonlaufen, gerät er unter Zugzwang und spannt bereitwillig mit den rasant wachsenden Freikirchen zusammen. Deren Schattenseiten ignoriert er nach dem Motto: Hauptsache christlich. Hauptsache nicht katholisch. Dass die wortwörtliche Bibelauslegung, die Brandmarkung der Homosexualität als Krankheit oder die Verteufelung des Darwinismus dem Leitbild einer aufgeklärten Theologie widersprechen, scheint den Wendehals-Protestanten egal zu sein. Von dem Schulterschluss mit den Evangelikalen erhoffen sie sich einen Verjüngungseffekt: jung, bunt und dynamisch soll die offizielle Kirche sein, ganz nach dem Vorbild der fundamentalistischen Freikirchen. Die Freikirchen ihrerseits sehen es natürlich als Ritterschlag, wenn sie von der offiziellen Kirche in gemeinsame Projekte eingebunden werden. Endlich kommen sie aus der Sekten-Ecke heraus und dürfen sich als vollwertige Repräsentanten des Christentums fühlen. Was bei diesem Deal auf der Strecke bleibt, ist die aufgeklärte Theologie von Bultmann bis Sölle, ein Protestantismus, der sich von der Leichtgläubigkeit früherer Zeiten verabschiedet hat. Ähnliche Allianzen zwischen Radikalen und Gemässigten gibt es auch im Islam. Ein Religionskritiker bekommt das heutzutage sehr schnell zu spüren. Sobald er ein bisschen am Glaubensfundament rüttelt, hat er nicht nur die Fundamentalisten gegen sich, sondern auch die Gemässigten, die ihn eigentlich unterstützen sollten. Während die Gemässigten ihre Kooperation mit dem Fundamentalismus als völlig unbedenklich abtun, verlästern sie Richard Dawkins als “fundamentalistischen Atheisten”. Kein Vorwurf könnte weiter daneben treffen. Ins gleiche Horn stösst nun auch Precht, der es eigentlich besser wissen müsste. Irgendwie seltsam und doch auch erhellend. Indem die gemässigten Religionsvertreter - und auch manche Humanisten wie Precht - den Spiess umdrehen und einen bedeutenden Religionskritiker zum Fundamentalisten stempeln, outen sie sich als religiös verwundbar. Den Respekt vor Religionen stellen sie über den gesunden Menschenverstand. Dawkins behauptet nämlich etwas, das auch für viele Gemässigte und Humanisten eine Zumutung darstellt. Insofern sich Religionen ins Leben einmischen (und das tun sie fast immer) müssen sie gewissen logischen, ethischen und wissenschaftlichen Fragen standhalten. Tun sie das nicht, (und das tun sie fast nie), darf man das öffentlich aussprechen und anprangern. Dass Dawkins in seiner Wut manchmal etwas zu weit geht und mit einem Holzhammer auf rohe Eier einschlägt, halte ich angesichts des weltweit grassierenden religiösen Fanatismus für zulässig. Ja, Dawkins zeigt Emotionen, er zeigt, dass ein Plädoyer für die Vernunft sowohl scharfsinnig als auch phantasievoll und leidenschaftlich sein kann. Auch damit setzt er seine Gegner schachmatt. Mit ihrer Behauptung, wissenschaftliche Rationalität sei leidenschaftslos, kalt und eindimensional, liegen sie nämlich definitiv falsch. Gut, dass Dawkins diesen Irrtum berichtigt hat. Und was Richard David Precht betrifft, so könnte er von Dawkins lernen, dass Philosophie nicht nur im luftleeren Raum schöngeistiger Eloquenz stattfindet, sondern mitunter von harten Notwendigkeiten getrieben sein kann. Beschämend genug, dass man dreihundert Jahre nach Voltaire immer noch gegen religiösen Stumpfsinn ankämpfen muss. Dawkins tut nur, was getan werden muss. Er plädiert für die Vernunft, und wenn er dabei zum Fanatiker wird, so tut dies seiner Sache keinen Abbruch. Nicht der Fanatismus an und für sich ist hier das Problem, sondern der religiöse Fanatismus. Anstatt also die neuen Atheisten (die so neu gar nicht sind) als verbohrte Rationalismusfanatiker zu brandmarken, täten wir gut daran, hinter der scheinbaren Paradoxie ihres gottlosen Glaubenseifers die Dringlichkeit zu beachten, mit der man sich in der modernen Welt gegen schädliche und unhaltbare Irrationalismen zur Wehr setzen muss. Selbstveständlich tut dies Dawkins als Biologe, und seine Polemik richtet sich denn auch vornehmlich gegen den Kreationismus. Insofern ist er in seinem kritischen Furor keineswegs so fundamental, wie ihm häufig unterstellt wird. Obwohl er in seinem allseits bekannten Bestseller “The God Delusion” die problematische mentale Verfassung religiöser Fundamentalisten aufdeckt und scharf kritisiert, geht er nie so weit, gläubige Menschen restlos und insgesamt zu pathologisieren: Freud ist da wesentlich radikaler gewesen. Seine Religionskritik bleibt unüberbietbar. Und auch unwiderlegbar. Nach dem Giftgasanschlag der Aum-Sekte in der Tokioter U-Bahn und den Aktivitäten von Al-Kaida rund um 9/11 ist Freud derjenige, der Recht behält. Der religiöse Terrorismus ist in der Tat ein religiöses Phänomen! Wer hätte das gedacht! Freud hat es gewusst. Der Unterschied zwischen einer paranoischen Phantasie und einer Religion liegt in der Rezeption, nicht in der Sache an sich. Oder anders gesagt: wenn sich ein einzelner Mensch in eine Wahnvorstellung verstrickt, gilt er als wahnsinnig. Wenn es eine Gruppe Radikaler tut, gilt sie als sektiererisch, im schlimmsten Fall als terroristisch. Und wenn es zwei Milliarden Menschen tun, gelten sie als religiös. Und man komme mir nicht damit, dass die mörderischsten Ideologien des 20. Jahrhunderts atheistisch gewesen seien! Diese Ansicht ist falsch. Weder Kommunismus noch Nationalsozialismus sind in ihren tiefsten Überzeugungen atheistisch gewesen. Beide Totalitarismen haben dem religiösen Phantasma einer “höheren Bestimmung” Millionen von Menschenleben geopfert. Es waren religiöse Massenbewegungen, in denen der metaphysisch begründete Zweck jedes Mittel geheiligt hat. Die 1898 gegründete "L'action française" war eine militant katholische Bewegung und die erste faschistische Organisation. Viele religiöse Elemente sind in den Faschismus und später auch in den Nationalsozialismus eingeflossen. Ähnliches gilt für den Kommunismus. Das Konzept einer klassenlosen Gesellschaft und einer prozessualen Menschheitserlösung, die ins Paradies führt, ist von seinem Ursprung her christlich. Lange vor Marx und Engels wurden kommunistische Ideen in einzelnen theokratischen Gesellschaften wie z.B. den Täuferbewegungen verwirklicht, häufig mit äusserst blutigen Konsequenzen. Religionen und totalitäre Ideologien ähneln sich nicht nur in ihren Verheissungen und Fiktionen. Die vielleicht grundlegendste Gemeinsamkeit liegt in der Methode, wie Menschen aus- und abgerichtet werden. Der ganze Mensch wird in Besitz genommen von einer Erlösungsdoktrin, die ihn dazu anhält, den Selbsterhaltungstrieb und das eigene Wohlergehen zurückzustellen und sich gegen Kritik und überhaupt jede Form vernünftiger und "offener" Argumentation zu immunisieren. Wie heisst es doch bei Shakespeare? Ist dies schon Wahnsinn, so hat es doch Methode...

 

“Ein Mann von 57 Jahren leidet seit einem Jahr an Wahnsinn. Er glaubt mit Gott in einer besonderen Verbindung zu stehen und erwartet seine Verherrlichung und die Demütigung seiner Feinde. Er behauptet, dass Gott, welchen er auch mit dem Wort BARONS-GROSSVATER bezeichnet, verdeckt mit ihm spreche, d.h. auf eine Art mit ihm spreche, dass er nicht alles verstehen könne. Er sei, erzählt er ferner, am rothen Meer gewesen, und habe dort einen Mann in einer Höhle sitzen sehen, welcher JUBEL heisse und ein Stiefbruder des Evangelisten Johannes sei. Er würde diesen Mann noch näher beschreiben können, wenn er (der Kranke) nicht GESPRENKELT sei. GESPRENKELT sei aber gleichbedeutend mit geblendet.”

 

(“Allgemeine Zeitschrift für Psychiatrie und psychisch-gerichtliche Medicin”, Berlin, Verlag August Hirschwald, 1852)

 

2013