Handlinien

 

Notate 1994/1995

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Die Hand des Schläfers purzelt über den Brustkorb, seitwärts abgleitend, und greift ins Leere. Der ganze übrige Körper schläft. Er ist wie eine Insel im Meer. Diese Hand jedoch, scheinbar blutlos, schlaff aus dem Ärmel hangend, von unbewussten Hirnimpulsen beseelt, gehorcht den Regeln eines Traums. Der Schläfer, ausserstande, die Hand in Gebrauch zu nehmen, träumt vielleicht, er schlafe, und dabei wird ihm diese freistehende Hand so schwer, dass sie ihm abzufallen droht. Man müsste die Hand sachte zurückziehen und auf den Brustkorb betten. Den ganzen Arm müsste man einbinden, in eine doppelte Schlaufe legen. Der Schläfer überlässt sich einer unbewussten Kraft, die ihn zieht. Er befindet sich im Schlepptau des Schlafs. Er ist wehrlos. Ein Gewimmel von Impulsen durchrieselt die Hand. Und trotzdem ist sie restlos gelähmt.

 

Im Kopf des Schläfers: ein Schattentheater.

 

Kunst beruht auf dem Prinzip der Zellteilung.

 

Kurz bevor der französische Maler Géricault dreiundreissigjährig starb, soll er ausgerufen haben: "Wenn ich wenigstens fünf Bilder gemalt hätte! Aber ich habe nichts gemalt, absolut nichts!” Géricault hinterliess schätzungsweise dreihundert Bilder. Ein Mathe-Genie war er nicht.

 

Mit einer Handvoll Zeichen lässt sich alles sagen, alles abdecken, alles erfühlen und gestalten. Wie das? Zeichen sind die Atome unseres gedanklichen Universums. Sie lassen sich zu Wörtern reihen, zu Bedeutungen formieren. Ich glaube an das Wort. Ich halte mich an die Zeichen. Mein Credo. Ich nehme die Sprache beim Wort. Die Folge davon ist, dass ich, wie die Kinder, an den Heffalump glaube, an den Schwarzen Mann und an die Katzenpiraten. Man erzählt sich von ihnen. Also gibt es sie. Die Zeichen wirken kraft des Vertrauens, das wir in sie setzen. Zu sagen: "Das ist ein Stein," erfordert Vertrauen in das Zeichen, das den Stein sozusagen realisiert, das Wort, das den Stein von einem Lautgebilde vertreten lässt. Für sich genommen ist das Lautgebilde nichts, aber unser Vertrauen in das, was ihm an Bedeutung unterlegt ist, verleiht ihm magische Kraft. Woher kommt dieses Vertrauen? Diese Schwerkraft der Bedeutungen? Das Wort “Stein” wiegt schwerer als ein wirklicher Stein.

 

Beim Malen verliert der Maler seine fähigste Hand. Durch sein Handgelenk geht ein Schnitt. Lange steht er da und betrachtet den Stumpf, das Oval mit dem Querschnitt des Knochens und der Adern, während die abhanden gekommene Hand, wie ein Falter, der hysterisch gegen ein erleuchtetes Fenster schlägt, ohne des Künstlers Zutun weiterpinselt. Es gibt Schnitte und Übergänge, aber keine Verluste. Was man verloren zu haben glaubt, setzt sich anderweitig fort, unbemerkt.

 

Der Baum untersteht dem Gärtner. Der Gärtner untersteht dem Gärtnerverband. Der Gärtnerverband untersteht der menschlichen Gesellschaft. Die menschliche Gesellschaft untersteht der Natur. Der Baum untersteht also sich selbst. Dort muss man anfangen, den Bogen zu spannen, bei dem, was unabänderlich sich selbst angehört. Und so gesehen, ist es gleichgültig, wo man anfängt. Alles gehört unabänderlich sich selbst an. Man ist immer am richtigen Ort, vorausgesetzt, man bindet den Ort, den man sich ausgesucht hat, nicht an etwas Übergeordnetes an, eine Abstraktion, eine grosse Idee. Die Einzelidee (das konkrete Detail) ist das Grundlegende - nicht das übergeordnete Gebäude. Um anzudocken, braucht man einen Punkt an der Küste, nicht den ganzen Kontinent.

 

Die Sängerin hat kein Instrument. Das heisst: sie selbst ist das Instrument. Sie macht den Mund auf, zieht Luft ein und singt. Die Reduktion auf das, was man an sich selber hat, ist im Grunde überall das Wichtigste. Nicht nur beim Singen.

 

Dringt einem Taucher Wasser in den Mund, so rettet er sich am ehesten dadurch, dass er das Wasser schluckt.... Den ganzen Ozean leersäuft.

 

Heute morgen im Radio: Kurt Cobain ist tot.

 

Ein Schock, aber kein Wunder.

 

Seine Musik hat Grenzen gesprengt, eine geniale Detonation. Die wird noch Jahrzehnte nachhallen.

 

Tröstlich, dass manchmal auch der Richtige nach oben katapultiert wird.

 

Man sollte ihn neben Beethoven bestatten.

 

Gefühle teilen und verzweigen sich wie Blutgefässe. Aber wo ist das Herz? Das Herz ist die Mitte, von der wir abhängen. Sie wirkt auf Gefühle und Gedanken ein, sendet Impulse aus, erzeugt Rückkoppelungen, Irritationen. Nie gibt sie Ruhe. Dauernd bricht sie sich um, scheinbar willkürlich löst sie Schwankungen aus, die sich bis zu den äussersten Nervenenden mitteilen. Was dort ankommt, ist immens verfeinert. Die Erschütterungen kommen verschlüsselt zu uns, Botschaften, die wir kaum verstehen. Von der Mitte her wird das Ganze in Bewegung gehalten.

 

„Days of open hand“. Eine durchsichtige Klanghaut aus minutiös arbeitenden Zellen, eine pulsierende Qualle.

 

Der Künstler kann noch so genau sein: eine höhere Genauigkeit pfuscht ihm unausgesetzt ins Handwerk. Das Ergebnis ist bestenfalls gelungener Pfusch.

 

Architekt A. konstruiert eine Kirche. Architekt B. kommt ihm zuvor. Architekt A., der sein Projekt vereitelt sieht, möchte den bestehenden Plan beibehalten. Er verkleinert den Massstab. Und so entsteht eine Hundehütte.

 

Suzanne Vega spricht von "Tarnfarben" und meint damit eine Methode, sich gegen Zuweisungen abzusichern. Sie erzeugt ein Panoptikum aus Masken und Rollen. Sie reproduziert sich in der Verstellung, reproduziert sich en miniature in ihren Figuren. Wer sich reproduziert, teilt sich auf. Was immer dabei herauskommt: es lässt sich fortsetzen. Wer sich bloss produziert, verbraucht sich hingegen rasch. Der Selbst-Akteur bläst in einen Ballon. Irgendwann ist Schluss. Entweder entweicht die Luft oder der Ballon. Oder beides zugleich. Oder der Ballon zerplatzt. Wenn die Puste nicht schon vorher weg ist.

 

Traumdeutung ist etwas Widersinniges.

 

Der Träumer steigt in ein abstruses Geschehen ein und weiss sofort, wie aus Instinkt, worum es geht. Er ist eingeweiht. Niemand souffliert ihm. Kein Dr. Freud sitzt am Bettrand und gibt Hilfestellungen. Der Träumer fügt sich in die Traumlogik ohne Zaudern. Wie leicht uns das Träumen fällt, wird uns erst bewusst, wenn wir mal wieder einen Traum Revue passieren lassen und uns den Kopf darüber zerbrechen, "was das hätte sein sollen". Träumen ist wie Chinesisch können. Ist man aus dem Traum erwacht, merkt man, dass man kein Wort Chinesisch kann, obwohl man kurz vorher noch mit zwei Chinesen fliessend Chinesisch gesprochen hat.

 

Wenn in der Traumdeutung der Verstand zum Einsatz kommt, vielleicht gar das psychologische Sezierbesteck, tun wir dem Traum Gewalt an. Wir erfinden einen Traum, der uns zu irgendwas gut sein soll, ersetzen die Traumlogik (die dem Instrumentarium des Wachbewusstseins verschlossen bleibt) durch einen Statthalter. Dann erst wird der Traum erzählbar. Und verrät uns vielleicht seine “Bedeutung”.

 

Der indische Magier gibt eine Vorstellung. Der Vorhang bleibt geschlossen. Die Zuschauer werden ungeduldig. Der Vorhang bleibt geschlossen, kein Magier erscheint. Eine Stunde vergeht. Die Zuschauer sind entrüstet. Sie verlangen an der Kasse das Eintrittsgeld zurück. Der Kassierer wehrt lachend ab. "Meine Damen und Herren! Seien Sie doch vernünftig. Prüfen Sie Ihre Uhren. Vergleichen Sie die Zeit an Ihrem Handgelenk mit den Uhren ausserhalb des Gebäudes." Mit nicht geringer Verblüffung bemerken die Zuschauer, dass ihre Uhren nachgehen. Die Vorstellung ist seit einer Stunde zu Ende.

 

Ludwig XI. ritt durch den Wald von Loches, als er vom Tod seines Söhnchens erfuhr. Er verzog keine Miene. Er wendete sein Pferd und ritt nach Hause, um Anordnungen für die Trauerfeier zu geben. Kurz darauf liess er den Wald von Loches ratzekahl abholzen.

 

Wenn man 80 Jahre alt und seit fünf Jahren verschollen ist, kann man für tot erklärt werden. Vielleicht wäre es gar nicht so schlecht, man könnte das bei sich selber machen: sich für tot erklären, sich zum Totsein ermächtigen. Eben genau darum: um weiterzuleben. Vorgezogenes Sterben, den Weg scheinbar zu Ende gehen, aber nur scheinbar. Sich auflösen, bevor die Zeit dazu da ist. Der Tod als Position mit Varianten und Variationen: nicht Punkt, sondern Linie. Nicht Linie, sondern Liniengeflecht. So könnte man dem Tod ein Schnippchen schlagen.

 

Künstlich geschaffene Tabus erhalten die Kunst lebendig.

 

Gewisse Jungtiere stürzen sich, kaum dem Ei oder dem Bauch entschlüpft, auf Gräser und Körner, die sie sich einverleiben, ohne dazu angeleitet worden zu sein. Sie handeln aus Instinkt. Die innere Natur diktiert ihnen, was sie zu tun haben. Ähnlich ergeht es uns, wenn wir träumen. Mit der grössten Selbstverständlichkeit verwickeln wir uns in diffusen Vorgängen, die uns kaum begreiflich sind, uns aber irgendwie angehen, uns betreffen, und je weiter wir dabei vordringen, desto beziehungsreicher scheint sich das Traumgeschehen um uns herum aufzubauen.

 

Mit offenen Augen träumen heisst: den Lauf der Dinge anhalten.

 

Eine Droge, die ihre Pulsfrequenz auf uns überträgt, den Atem einfriert, die Vorhänge zuzieht und uns in eine Stummfilmszene versetzt, die sich in zeitlupenartiger Verlangsamung dem Stillstand nähert. Diese Droge heisst Schönheit.

 

Schalltotes Gewitter, Tiefseefische.

 

Vega wechselt oft die Frisur, was nicht heisst, dass sie auch den Friseur wechselt.

 

Vegas Selbstbewusstsein ist gewachsen. Sie kalkuliert bereits den Misserfolg. Sie schaltet auf “Steilanstieg”.

 

„Days of open Hand“. Handreichungen in fahler Beleuchtung. Geräusche aus der Luftröhrenkanüle. Finger, die auf etwas zeigen. Etwas wird gebracht, wird dargereicht. Flüstern. Statuen gestikulieren wie Verkehrspolizisten. Ein Geheimnis entfaltet seine Konsequenzen. Skalen, Zahlen, Fraktale. Höhlenarchitektur, und im Wasser die blinden weissäugigen Tierchen unserer Ängste. Passend dazu: „Ein Schmetterling torkelt durch die Schwärze einer Höhle. Dabei nimmt er Stellungen ein, die sichtbar im Raum verbleiben, wie gefrorener Rauch.“ (C. Pavese)

 

Vega stellt seelische Situationen her. Sie praktiziert die innere Wirklichkeit als Abwehrzauber gegen die äussere Wirklichkeit.

 

Dem zurückgehaltenen Fieberausbruch gehen, in langsam ansteigender Intensität, Hitzewallungen voraus. Die Vorhänge bauschen sich. Am Berghang gegenüber kocht ein Gewitter. Es grollt vermutlich in sich hinein. Man hört nichts. Die Luft ist elektrisch.

 

Vegas Gesang wirkt flächig und glatt wie Glas, aber man hört nicht hindurch, kommt nicht dahinter. Wenn das eine Glasscheibe ist, dann ist es die Glasscheibe in einem Verhörraum.

 

Vega schneidet ihre Gesten aus, verkürzt und präzisiert sie. Das ist sehr ägyptisch.

 

Vieles an Vega erinnert an die flämische Malkunst, dieses Ineinander von Geheimnis, Feinheit, Spiegelung, Oberfläche und Trick.

 

Vegas grösstes Geheimnis: negative Intensität.

 

Kierkegaard: "Hinter dem Auge liegt die Seele wie eine Finsternis."

 

Das Ganzheitsideal der Psychologen und Esoteriker: sehr verführerisch, aber auch irreführend. Rilke bei Sigmund Freud, Kafka bei Rudolf Steiner. Den Ratsuchenden hat das wenig gebracht - oder gar nichts.

 

Stan und Ollie in der Postkutsche. Ollie sitzt einer schönen Frau gegenüber. Er beginnt mit ihr zu turteln. "Gestern war sooo schönes Wetter. Sooo viel entzückender Sonnenschein, hübsche Wolken, und der Wind..." Plötzlich Stan, mit hochwichtigem Gesicht: "So ist es. In letzter Zeit hatten wir eine ganze Menge Wetter."

 

Man kann alles auf zwei Arten sagen.

 

Es ist Sonntag. Ich rüste Salat. Das Telefon klingelt, ich lege das Messer auf die Anrichte, eile in die Stube und nehme den Hörer ab. Eine weibliche Stimme: "Deine Wohnung ist schräg... Das hat Auswirkungen. Deine Wohnung ist schräg." Tatsächlich merke ich jetzt, (wieso erst jetzt? ein Aufflackern von Unsicherheit darüber, inwieweit die Wohnung schon immer in diesem Zustand gewesen ist) dass sämtliche Wände einen gewissen Neigungswinkel aufweisen. Auch die Böden scheinen sich nicht so zu verhalten, wie sie sollten: sie sind einseitig etwas angehoben, leicht gekippt. Nicht anders verhält es sich mit dem Plafond. Alle rechten Winkel sind verschwunden. - "Achte auf den Salat," sagt die Stimme. "Du schneidest die Blätter und die Storzen krumm." Ich packe das Telefon und gehe, den Hörer zwischen Schulter und Ohr geklemmt, in die Küche zurück. Ich merke, dass ich aufwärts gehe, und der Boden ist kaum noch eine Fläche, sondern wie in sich verschoben, vielfach geknickt und gefalzt. Ich steige über etliche Auffalzungen hinweg. In der Küche sehe ich, dass die Scheibchen, die ich geschnitten habe, schräg sind, genauso schräg wie die Wände und die Böden, die ganze Wohnung. Seltsamerweise finde ich das gar nicht so schlimm. Ich erkenne darin eine Logik, eine höhere Stimmigkeit, die auf mich einwirkt und durch mich auf die Wohnung. Ich sage: "Das musst du verstehen: die Schräglage bewirkt einen schrägen Salat, aber essen kann man ihn trotzdem."

 

Ein unterirdischer Raum. Ich habe mich darin eingemietet. Die Wände sind kalkverputzt, aber da und dort auch glatt, wie geschmiergelt, der Raum unterteilt in Parzellen, aber sehr undeutlich, höhlenartige Ausbuchtungen ergänzen und erweitern den Hauptraum, die Decke gewölbt, ein Tonnengewölbe mit Rippenbögen. Keine Möbel. Alles kahl und leer, aber nicht unwohnlich. Es lässt sich leben hier. Ich fühle mich behaglich in diesem Raum, der sich unklar fortsetzt. Was ich als meinen Wohnbereich abstecke, ist noch längst nicht alles. Irgendwohin dehnt sich der Raum ganz gewaltig aus. Wahrscheinlich liegt es an seiner unklaren Unterteilung, dass ich das nicht sofort überprüfen kann. Es ist unmöglich, so kurz nach dem Einzug schon ein vollständiges Bild zu erhalten. Das braucht Zeit. Ich sehe mich um. Aus einem Loch in der Wand sprudelt unaufhörlich Wasser, das über Stufen auf den Boden plätschert und von Schachtritzen geschluckt wird. Als ich mich weiter umsehe, entdecke ich einen Korridor, an den sich ein verzweigtes System aus Stollen, Schächten, Kammern und Nebenkammern anschliesst. Ich bin im Zweifel, ob ich mich hier überhaupt noch aufhalten darf. Wahrscheinlich ist es eine Art Durchgang zu einem Bereich, der nicht mehr zu meiner Wohnung gehört. Aus den Tiefen dieses Übergangs, vor dem ich zurückschrecke, dringt ein Gelärm zu mir herein, fern und stark gedämpft. Ein beständiges Rauschen und Surren. Manchmal auch Stimmengewirr. Vermutlich ist da irgendwo eine Stadt.

 

Endlich in meiner neuen Wohnung. Sie ist bezugsbereit. Wind fährt um die Mauern. Fensterbrüstungen und Giebel ragen ins Blaue. Der vorherrschende Farb- oder Lichtton: pulveriges Weiss. Hell und sympathisch die Innenansicht, spürbare Intimität. Vermutlich habe ich in diesem Haus schon einmal gewohnt und es wegen einer mir ungünstigen Wendung Hals über Kopf verlassen müssen. Ich bin fort gewesen, und nun bin ich wieder da. Die Wohnung, obwohl rundum erneuert, ist mir sofort vertraut. Ja, ich habe hier schon einmal gewohnt, jahrelang habe ich in dieser Wohnung gelebt, ohne sie als diese Wohnung zu erkennen... Eine schemenhafte, eigentlich unsinnige Traumlogik, die sich ebenso schnell einstellt, wie sie sich auflöst. Ich gehe von Raum zu Raum. Es zieht mich vorwärts, die Räume sind leer, die Wände frisch geweisselt. Das Terpentin kitzelt die Nase. Man hat meine fluchtbedingte Abwesenheit für Renovationsarbeiten genutzt, denke ich, während ich aus einem Fenster schaue, durch das die Sonne hereinscheint.

 

Ich betrachte eine Landkarte. Sie gibt das nördliche Ufer eines Sees wieder. Am Rand der Karte sind einige Kartonrädchen angebracht, die es einem ermöglichen, den Massstab zu vergrössern oder zu verkleinern. Ich stelle nun die Karte so ein, dass mir das kaum Angedeutete, etwa ein Stück Grasland, eine Uferpromenade, ein Landesteg, um ein Vielfaches vergrössert erscheint, phantastisch naturgetreu, plastisch ausgeformt. Ich sehe nun auch kleine Dinge (klein am Format der Karte gemessen) mit verblüffender Deutlichkeit. Eine Ahnung befällt mich, eine Lust am Ausprobieren. Ich brenne darauf, die Rädchen weiter zu betätigen, um herauszufinden, bis wohin mich diese Manipulation bringen würde. Heftiges Glücksgefühl. Ich sehe Dinge, die ziemlich quer sind, wirr, putzig, bezaubernd: badende Männchen und Frauchen, Hündchen, ein Kleinstaat des Müssiggangs, betörende Details. Mir ist, als würde ich aus einem Boot in einen See hinabblicken, und langsam würde da unten, durch die Oberfläche des gewellten und gewalmten Wassers hindurch, eine Landschaft sichbar, zuerst undeutlich, dann aber kristallklar: eine Topographie mit feinster Licht- und Schattenverteilung. Ich drehe wieder an den Rädchen, schaffe eine neue Einstellung. Noch grösser kommen mir die Dinge entgegen... Die Details vervielfachen sich....

 

In seinem Gemälde “Die Madonna des Kanzlers Nicholas Rolin” zeigt uns Van Eyck die verklausulierte Realität der Träume. Da ist jedes Detail beiläufig verrätselt, hingesetzt nach einem System, das seine eigenen Gesetze walten lässt: die Stadt mit ihrem Kommen und Gehen der Menschen, den geschäftigen Erledigungen auf Plätzen, Strassen, Türschwellen, am Kai, auf Brücken und auf Wegen. Die Ansicht ähnelt einem Tausendfüssler, der eine Unzahl verschiedener Bewegungen ausführt, im Ganzen jedoch etwas zustande bringt, das in sich stimmig ist. Was bezweckt der Maler mit seinem spielerisch ausgebreiteten Panorama? Erzählt er Anekdoten? Lässt er uns den Alltag beobachten? Nein, er vertieft die Stille im Vordergrund, macht sie gläsern und kompakt, umgibt sie mit einer Aura des Einhaltens. Maria und das Jesuskind erglänzen im Bernstein ihrer Heiligkeit, ganz nah und doch entrückt. Sie sind gegenwärtig. Was sie tun und darstellen, ist wesentlich. Alles andere verläuft sich in einer summenden Schlaf- oder Traumrealität, verdämmert im Nebensächlichen, verliert sich im Mikroskopischen.

 

Fehler sind sinnvoll. Wer bestrebt ist, etwas kaum Begonnenes schon ins Reine zu bringen, pfuscht der natürlichen Selbstorganisation ins Handwerk. Die gültige Form (das gültige Ergebnis) ergibt sich daraus, dass man Fehler nicht ausmerzt, sondern als Komplizen betrachtet. Sie helfen mit, die gültige Form zu finden. Stolpernd erreicht man mehr als mit einem vordergründigen Perfektionismus, der kein Stolpern zulässt und nur auf Glanzleistungen aus ist. Das Stolpern kommt nämlich aus uns selbst. Es konfrontiert uns mit Schwächen, die einen Grossteil dessen ausmachen, was uns zur gültigen Form verhilft. Nur wer sich einbringt, kann diese Form erreichen, und wer sich einbringt, bringt auch seine Schwächen ein.

 

Leser sind unverständlich, ihre Schriftfixierung erregt Kopfschütteln. Welche Hingabe! Und diese Versunkenheit! Wie Autisten hocken sie tagelang vor einem Buch, kaum ansprechbar. Schleicht man sich an sie heran und stupst sie in den Rücken, so fahren sie zusammen und schreien auf. Manchmal erschrecken sie so sehr, dass sie einem das Buch kurzerhand über den Kopf hauen. Literatur als Waffe im geistigen Nahkampf.

 

Leser tun sich schwer damit, über Literatur zu sprechen. Berufsleser, sogenannte Rezensenten, können das ganz glatt und geschmeidig. Sie verwerten ihre Lektüre publizistisch, das ist ihr Beruf, darin sind sie routiniert. Dem Verliebten aber fehlen die Worte, und wenn er sie findet, dann sagen sie nichts aus. Er greift in einen Haufen dürrer Blätter. Er spürt, dass er nur Belangloses von sich gibt. Eine halbe Nacht haben wir uns mit einem Buch um die Ohren geschlagen, sind hingerissen von seiner Wucht, seiner Sprache, seiner Einmaligkeit. Wir eilen zu einem Freund, noch ganz erfüllt von den Wundern, die uns zuteil geworden. Wir schiessen los: es kommt so, dann geschieht das, und welch ein Schluss, welch ein Paukenschlag, stell dir vor, wie toll! Der andere aber versteht das nicht so recht. Er wiegelt uns ab. Schon gut, schon gut. Begeisterung lässt sich nicht mitteilen, zumindest ist sie durch Mitteilung nicht übertragbar. Man spürt sie oder spürt sie nicht. Kommt dazu, dass ein gutes Buch nicht durch das Erzählte besticht, sondern durch das Erzählen. Es ist der Ton, der die Musik macht. Ihm gehen wir auf den Leim, nicht der Geschichte. Eine Geschichte kann unterschiedlich erzählt werden; aber den Tonfall eines Buches (eines Autors) empfinden wir je nachdem als etwas Einzigartiges. Darauf springen wir an - oder eben nicht. Darauf reagieren wir, wenn wir denn darauf reagieren, mit einem eigenen Text. Der wiederum hat weniger mit dem Phänomen Buch als mit dem Phänomen Mensch zu tun. Sobald wir uns emotional und gedanklich auf die Äusserungen eines Menschen einlassen, (und Bücher sind durchweg von Menschen geschrieben) treten wir in einen Dialog. Wir antworten auf das Buch mit einer Empfänglichkeit, die so individuell ist wie die Vorliebe für bestimmte Farben oder Gerüche. Das Buch, das wir lesen, entsteht in uns neu, es wird unser Buch. Es ist dann nicht mehr das Buch, das auch ein Herr Müller oder eine Frau Meier liest. Wenn uns ein Buch begeistert, ist dies mit der gelesenen Geschichte nur unzureichend zu erklären. Wir lesen nicht nur, was dasteht, sondern während des Lesens bildet sich quasi unter der Hand ein zweiter Text, ein Text, der nur uns gehört. Dieser Text ist das eigentliche Buch. Ihn wiederzugeben, scheitert an seiner Subjektivität. Er deckt sich nicht mit der Handlung des Buches. Er ist nicht mitteilbar. Das Erzählte lässt sich zusammenfassen. Nicht so der Text, den das Lesen in uns erzeugt. Mit diesem Text bleiben wir allein. Dieser Text ist das Empfindungsfeld, mit dem wir auf das Buch reagieren und das Gelesene verarbeiten. Dieser Text hat sich während der Lektüre mit uns verflochten und könnte, wenn überhaupt, nur in der Form eines neuen, von uns selbst geschriebenen Buches wieder Mitteilung werden... Und auch dort nur annähernd.

 

Vielleicht ist das ja der Grund, weshalb Bücher dazu neigen, sich zu vermehren.

 

In Basel lässt es sich leben, oder doch fast. In Basel arbeite ich und zahle Steuern. Ich lebe hier. Wenn man Arbeiten und Fiskalknechtschaft als Leben bezeichnen kann, stimmt es voll und ganz: ich lebe in Basel.

 

Das Basel, in dem ich lebe, ist aber eigentlich nicht das Basel, das ich liebe. Ja, es gibt auch dieses andere Basel, die Stadt des Verdreht-Schnurrigen, der Kleinkram-Poesie, des Gereimt-Ungereimten.

 

Das Basel der mechanischen Puppen und verzauberten Dachstuben, der musealen Staubfänger und schrägen Vögel, der Naturalienkabinette und anatomischen Schauvitrinen.... Das Basel, das in den poetischen Rumpelkammern von Niki Stöcklin herumgeistert, mit Blätzlikostümen durch die Gassen täppelt.... Das Basel der spitznasigen Phantastereien.... Das Basel, das immer ein bisschen "anders" ist....

 

Das Basel von Urs Widmer, Rainer Brambach, Dieter Roth, Tinguely...

 

Viel gegenwärtiger und spürbarer ist das normale, das heutige Basel, das nach Abgasen stinkt und von linksgrünen Idioten regiert wird. Alles in allem hat diese Stadt etwas von einem Meeresungetüm, das viel von der Welt gesehen hat, aber irgendwann ans Rheinufer gespült worden ist, um eine Stadt aus Knochen zu werden, ein liebenswürdiger Kadaver, rätselhaft in seiner geriatrischen Musealität, abseitig und ohne jede Zukunft. 

 

Doch andererseits, wie könnte man Basel nicht lieben... Ich meine die Stadt, nicht die Menschen.

 

Dem typischen Basler geht man am besten aus dem Weg.

 

Seine Witze erzählt er mit todernstem Gesicht. Für seinen trockenen Humor ist er berüchtigt, seine Sprüche sind wie versteinertes Brot. Spass versteht er nicht, was wiederum die Zürcher und die Deutschen überhaupt nicht verstehen, setzen sie doch Spass mit Humor gleich. Wenn der Basler lacht, dann stäubt es aus seinem Mund. Er lacht selten. Und selten über etwas Lustiges. Meistens lacht er nur, weil er etwas "lachhaft" findet. Im übrigen nimmt er das Leben sehr ernst. Wenn er in seiner Nase bohrt, ist das keine gewöhnliche Nasenpopelei. Es ist eine Operation, ein Eingriff: da wird ein Tumor entfernt. Dementsprechend gestaltet sich die Basler Fasnacht: gravitätisch wie ein Staatsbegräbnis, hölzern wie ein Alexandriner und stilvoll wie die Commedia dell'arte. Und all das nur, um ein bisschen Krach zu machen.

 

Die Liberalen sagen Freiheit und meinen damit die Freiheit, Geld zu scheffeln. Die Linken sagen Freiheit und meinen damit die Freiheit, zu schmarotzen. Die Konservativen sagen Freiheit und meinen damit den Rütlirapport. Die Grünen sagen Freiheit und meinen damit die Freiheit, Salat zu essen, an dem es Schnecken hat. Wenn ich Freiheit sage, meine ich damit eigentlich nur, dass ich die Freiheit haben möchte, spazierenzugehen. Was nicht heisst, dass ich irgendwie apolitisch oder politikverdrossen wäre. In meinem Denken bin ich sehr politisch, nämlich biedermeierlich auf Rückzug bedacht. Womöglich ist diese Haltung ein bisschen anarchistisch, unter bestimmten Gesichtspunkten könnte man sie sogar als staatszersetzend einstufen. In jedem Spaziergänger steckt - wenigstens der Möglichkeit nach - ein Terrorist.

 

Auf grobe Gebärden verzichten, keine Gewalt, keine Politik, keine Schimpfwörter, Rückzug in die Idylle: so leben die Neo-Biedermeier. In der heutigen Zeit ist das so subversiv, dass die Punks und Linksanarchisten hoffnungslos ins Hintertreffen geraten. 

 

Auf meine früheren postalischen Exzesse bin ich ein wenig stolz, vor allem wenn ich mir bewusst mache, dass das Zeitalter des Briefeschreibens unwiderruflich zu Ende geht. Vielleicht hat ja die Agonie des Einander-Anschreibens schon vor mehr als hundert Jahren begonnen, nämlich mit der Erfindung des Telefons und anderer technischer Kommunikationsmittel. In den alten Zeiten, als noch Kutschen fuhren, so um 1800 herum, war das Briefeschreiben eine regelrechte Manie. Ein Volkssport. Billetts, Episteln, Bittbriefe, Bettelbriefe, Rundbriefe, man kritzelte und schabte und siegelte zwischen Tür und Angel, in der Kutsche, im Gasthof, in der Gartenlaube, bei jeder Gelegenheit. Goethe und Schiller, obwohl Haus an Haus wohnend, schrieben einander täglich. Sie brauchten ihre Briefe bloss aus dem Fenster segeln zu lassen, und der andere konnte sie auffangen. Es war ein Zeitphänomen. Alles, was die Menschen bewegte, fand seinen unmittelbaren schriftlichen Niederschlag, wurde emsig verschriftlicht: täglicher Kleinkram, Freundschaft, Liebe, Naturgefühl und Empfindung. Die Devise war: "Einfalt und Wahrheit." Man schrieb sehr emotional, mit drängendem Puls und glühendem Kopf, was freilich auch oft danebenging. Sentimentalität ohne Substanz, Gefühlshülsen, Sprachwendungen aus zweiter Hand waren unvermeidlich. Man schrieb eben unbekümmert, frisch von der Leber weg; von sprachökonomischer Flurbereinigung war man noch weit enfernt. Um Stil bemühten sich höchstens die Kanzlisten, über die man sich denn auch ausgiebig lustig machte, weil man sie für gefühlsarm hielt. Eine Duden-Redaktion gab es noch nicht, niemandem wurde das Recht zugestanden, sich in das Privateste einzumischen, das sich die Menschen damals überhaupt vorstellen konnten: die Sprache. Der Sprung vom Mündlichen zum Schriftlichen war auch bei den Gebildeten noch sehr klein. Wer es sich leisten konnte, diktierte seine Mitteilungen einem Adlatus in die Feder, und auch das Lesen war nicht immer leise, man las mit Vorliebe laut, und was da vorgelesen wurde, verlangte durchaus nach mündlicher Wiedergabe. Man parlierte auf dem Papier wie bei einem Schwätzchen im Stiegenhaus. Dementsprechend eigen und privat waren die sprachlichen Gepflogenheiten. Jeder hatte sein Privat-Deutsch, auch ein Goethe erlegte sich da keine Zwänge auf. Jeder bog sich die Orthographie zurecht, wie es ihm passte, von dieser Willkür ausgenommen war nicht einmal der eigene Name. (Goethe schrieb manchmal “Göte”). Die Sprache lebte, sie pulsierte zwischen Dialekt, Interjektion, Lautmalerei, Küchenlatein und Schwulst. Im ungeordneten Sprachfieber brach das Lebendige durch, das Individuelle. Orthographische und grammatikalische Richtlinien, Regelungen und Vorschriften sind ein sicheres Anzeichen dafür, dass die Sprache ihre Vitalität verliert. Aber keine Angst, ich rede jetzt nicht einem modischen Kulturpessimismus das Wort, von wegen Sprachverarmung! Die Sprache ist reglementierter als früher, das stimmt, der Duden diszipliniert uns, und viele Sprachfacetten sind genauso verschwunden wie Ziertürmchen und Erkerfensterchen, d.h. man betrachtet sie als museale Relikte. Es gilt die DIN-Norm. Der Witz daran: der Verlust ist auch ein Gewinn. Oder wäre etwa das Fussballspielen spannender, wenn man auf die Fussballregeln verzichten würde?

 

Braque: “Um zu einer Sache zu kommen, muss ich die Sache erst vernichten.” Vielleicht muss man erst Schulversager werden, bevor man etwas lernen kann.

 

Leistungsstarke Teleskope durchdringen das Universum. Millionen von Sonnen sind bereits katalogisiert, neu entdeckte Galaxien erweitern den Blick ins Unendliche, das vielleicht gar nicht so unendlich ist. Und während ich das schreibe, sitze ich auf einem Holzstuhl. Er hält mich, ich sitze bequem. So ein Stuhl ist eine ganz selbstverständliche Sache. - Bis ich mir zu überlegen beginne, worauf ich da eigentlich sitze. Ich sitze auf einem Gegenstand, gut. Er ist real, ein alter Bekannter von mir. Seine Eigenschaften sind beschreibbar. Er ist aus Holz, braun, hat vier Beine und eine Rückenlehne mit zwei Streben. Bis dahin komme ich noch ohne Mühe. Ich muss dazu nicht einmal aufstehen: das Aussehen des Stuhles habe ich einigermassen im Kopf. Will ich aber mehr über meinen Stuhl herausfinden, muss ich aufstehen, mich ein bisschen bewegen. Ich könnte ihn genauer untersuchen, vielleicht sogar auseinandernehmen. Ich könnte herausfinden, wieviele Schrauben verwendet wurden. Die Holzteile könnte ich zählen und vermessen. Ich könnte das Konstruktionsprinzip ergründen, die Bauart... Mit entsprechenden Instrumenten könnte ich bis zur Mikroebene vordringen, die Materialität untersuchen. Soweit überhaupt kein Problem. Weiss ich jetzt über den Stuhl Bescheid? Vielleicht ein bisschen. Aber noch weiss ich längst nicht alles. Vieles bleibt offen, rätselhaft. Meine Fragen - hypothetischen Fragen - betreffen ja nicht nur die Materialität. Da gibt es auch Fragen, die über das Augenscheinliche und Greifbare hinausgehen. Von welchem Baum stammt das Holz? Und wo hat der Baum gestanden? Wie alt ist er gewesen, als er gefällt wurde? Wer hat ihn gefällt und in wessen Auftrag? Wie alt ist der Holzfäller gewesen? Ledig oder verheiratet? Brünett oder schwarzhaarig? Finnländer oder Schweizer? Wo ist er zur Schule gegangen? Welche Nummer hat sein Garderobenfach in der Schule gehabt? 17 oder 52? Dass ich diese Nummer nicht weiss, macht mich bescheiden. Im Grunde weiss ich überhaupt nichts. Sogar das Allernächste, dieses Holzding, auf dem ich sitze, ist für mich ein Mysterium.

 

In den fünfziger Jahren kam ein Vulkanfiber-Koffer auf den Markt. Der Hersteller hatte sich folgenden Slogan ausgedacht: “Dieser Koffer überlebt einen Flugzeugabsturz aus dreitausend Meter Höhe.” Nicht ein einziger Koffer wurde verkauft. Die Leute sahen offenbar keinen Trost darin, ein Gepäck zu haben, das einen Flugzeugabsturz überleben würde, während sie selbst dabei draufgingen. Die Unzerstörbarkeit des Koffers hatte potentielle Käufer abgeschreckt. Erfände man einen Koffer, der fliegen kann, wäre das Ergebnis nicht minder katastrophal: wer beim Auseinanderbrechen seines Flugzeugs in die Luft katapultiert wird, fragt wenig danach, ob das Gepäck weiterfliegt.

 

Auf die Frage, wen er für den grössten zeitgenössischen Maler halte, soll ein Schriftsteller geantwortet haben: “Wenn ich doch noch seinen Namen wüsste! In meinem Schreibzimmer hat er die Wände gestrichen.”

 

Kürzlich bin ich in arge Verlegenheit gekommen, als mich jemand nach meinen Hobbys gefragt hat. “Meine Hobbys? Ich habe keine Hobbys. Wenn ich nicht meinem Broterwerb nachgehe, ein notwendiges Übel, das leider mehr als die Hälfte meines Daseins wegfrisst, so tue ich eigentlich nichts. Ich betreibe kein Snowboarding, kein Sackhüpfen, und Discobesuche habe ich mir schon im Kindergarten abgewöhnt. In meiner Freizeit tue ich buchstäblich nichts.” - “Aber wird dir dabei nicht langweilig?” - “Langweilig? Schön wärʼs. Die Zeit rennt mir davon. Im nächsten Juni werde ich fünfundzwanzig. Es bleiben mir also höchstens noch siebzig Jahre. Soll ich die etwa mit Hobbys verschwenden?”

 

Wieso werden Sprayer eigentlich kriminalisiert? Wenn deren Tags und Graffiti wirklich so übel wären, müsste man konsequenterweise auch die Architekten bestrafen - und erst recht die Künstler, die unter dem Label “Kunst am Bau” ihren Atelierschrott entsorgen. Den Sprayern kann man wenigstens zugute halten, dass sie ihre Werke unentgeltlich in die Welt setzen. Ganz anders verhält es sich mit den Architekten und den Besoldungskünstlern. Die lassen sich ihre Schandtaten einiges kosten. Und die Allgemeinheit bekommt Augenkrebs.

 

“Wir brechen den Zirkus ab, aber der Zirkusplatz gehört weiterhin uns.” Mit diesen Worten haben sich die Beatles 1970 verabschiedet - und der Welt klargemacht, was von ihnen bleiben wird. Der Zirkusvergleich ist sehr treffend. Am Ende ihrer Ära standen die Beatles schon längst nicht mehr nur für Popmusik und die “Roaring Sixties”. Was die Beatles zur Vollendung gebracht hatten, war Meta-Pop, ein artifizielles Darüber-hinweg-Steigen. Das hatte durchaus Zirkuscharakter, war ein Jonglieren mit Referenzen und selbstbezüglichen Klischees. Clowns spielen Clowns, und der Dompteur spielt Dompteur. So tricksten die Beatles den Zeitgeist aus. In der Tat sind sie bis heute die einzige Band, die ihren Nachruhm nicht ausschliesslich dem popmedialen Zeitgeist zu verdanken hat. Popmedialer Nachruhm kann verblassen oder wie im Fall von Elvis und ABBA zu Glitzerkleid-Nostalgie erstarren. Die Beatles waren und sind zeitlos, weil sie ein zirkusähnliches Gesamtkunstwerk waren - und bis heute geblieben sind. Ein Zirkus spielt immer wieder auf, er muss sich wiederholen, weil seine Selbstbezüglichkeit, sein Spiel mit dem Zirkusspiel, auf Endlosigkeit angelegt ist. Er verfängt sich im eigenen Spiegel, wird zum Selbstbespiegelungskabinett. So kann es wohl sein, dass die Beatles das Zirkuszelt abgebrochen haben. Aber es wäre untertrieben zu sagen, dass sie nur das Zirkusgelände zurückgelassen haben. Noch heute sind sie allen andern voraus, und die Vorstellung geht weiter.

 

Aus dem, was sie erzählen will, schält Suzanne Vega einzelne harte Kerne heraus: gut artikulierbare Wörter. Diese schleift sie zurecht, poliert sie kugelrund. Als Sängerin ist sie extrem sparsam, zurückhaltend. Die deutlich voneinander abgesetzten Wörter verwandelt sie in Gesten. Ein isoliertes Wort bremst die Erzählung, ist eher Geste als Wort, etwas wie ein Handzeichen. Deshalb empfindet man Vegas Lieder oft als pantomimisch... So singt eine Taubstumme.

 

Tractatus über den Hund:

 

1. Im Wesen des Hundes ist etwas Abgerissenes, etwas Unvollständiges.

2. Der Hund lässt sich aufziehen wie ein Uhrwerk. Aber nie bis zum Anschlag.

3. Gerne leistet er seinen Beitrag zur allgemeinen Hundekommunikation, zum Beispiel durch Urinabgabe.

4. Mit eigentümlicher Beharrlichkeit decodiert er die Rücklassungen anderer Hunde.

5. Die Schnauze, vorwiegend nach unten gerichtet, verkörpert sein Lebensprinzip.

6. Der Hund verhält sich zu uns wie das Quadrat zum Würfel.

7. Der Hund ist stumm. Diese Regel wird bestätigt durch Punkt 8.

8. Der Hund bellt. Bei wohlerzogenen Hunden ist dies eher die Ausnahme.

9. Der Hund ist die vierbeinige Version des Menschen.

10. Das Hundehirn muss vieles verarbeiten. Nie kommt es zu sich selbst.

11. In gewisser Hinsicht ist der Hund, trotz seines Mangels an Bewusstsein, der Sherlock Holmes unter den Tieren.

12. Nie wird es ihm gelingen, den Kriminalfall seiner Existenz zu lösen.

13. Entweder ist er übervoll mit Absichten oder völlig leer.

14. Der Hund ist schön in Bezug auf die Hand, die ihn tätschelt.

15. Der Hund ist treu.

 

Tractatus über die Katze:

 

1. Im Wesen der Katze ist ein Hang zur Tuerei, auch zur Heimlichtuerei. Die Katze benimmt sich wie eine Katze, aber man kann nie ganz sicher sein, ob sie auch wirklich eine Katze ist.

2. Die Katze lügt dir ins Gesicht. Oder springt dir ins Gesicht. Je nachdem.

3. Die Katze hält sich ein Hintertürchen offen.

5. Die Katze ist Juristin in eigener Sache.

6. Sie würde Whiskas kaufen.

7. Die Katze bevorzugt Menschen, die ein klein wenig dümmer sind als sie selbst.

8. Die Katze bevorzugt Beute, die zappelt.

9. Die Katze nimmt sich Tagesfreizeit, wo und wann sie will. Tagelang liegt sie auf einem einzigen Fleck.

10. Die Katze hat sieben Leben.

11. Die Katze schlendert mit Kalkül.

12. Die Katze starrt in ein Loch.

13. Die Katze starrt immer noch in ein Loch.

14. Die Katze starrt immer noch in ein Loch.

15. Wie lange noch?

16. Die Katze fängt die Maus.

 

Eine Leinwand, die sich für den Film oder das Dia bereithält, ist recht langweilig. Wäre sie nicht langweilig flach und monochromweiss, so würde sie kein einziges Bild in der gebotenen Schärfe und Farbigkeit wiedergeben können. Den gebündelten Lichtstrahl aufzudröseln und in Erscheinung treten zu lassen: das ist die Aufgabe, die sie meistens zuverlässig erfüllt. Erst in der Berührung mit der Projektionsfläche faltet sich das Bild auf. Es öffnet sich wie eine Blume, an der man riechen kann. Synästhetisch gesprochen. Im Unterschied aber zur Leinwand, die bemalt wird, ist die lichtbespielte Leinwand nur ein Provisorium. Irgendwann kehrt sie wieder in ihren Ursprungszustand zurück. Sie zeigt etwas, das sie gar nicht besitzt. Sie gaukelt uns Dinge vor, ganz anders als zum Beispiel ein gemaltes Bild, das ja tatsächlich zum Farb- und Materieträger geworden ist und das Gemalte auch wirklich besitzt. Die Leinwand, die sich für den Film oder das Dia bereithält, ist im wesentlichen eine Leerfläche und fällt nach jeder Vorführung (wenn die Lichter im Saal wieder angehen) in die ursprüngliche Leere zurück. Was sich auf ihr ereignet hat, ist ein Spuk gewesen. Seltsamerweise ein Spuk, der in seiner Wiedergabe der Realität realistischer wirkt als jedes gemalte Bild.

 

Man kann am Atlantischen Ozean vorübergehen, ohne ihn zu sehen. Warum? Er ist flach.

 

Lässt sich gültig definieren, was Kunst ist oder sein soll? Jeder pickt sich seine Lieblingsrosine heraus. Für mich ist es die Definition von André Breton (1937): “Ein Kunstwerk, das diesen Namen verdient, ist etwas, was uns die Empfindungsstärke der Kindheit wiedergewinnen lässt. Dies vermag es nur unter der ausdrücklichen Bedingung, dass es nicht auf die laufende Geschichte zählt, deren Widerhall im Innern des Menschen einzig von der systematischen Rückkehr zur Fiktion erwartet werden darf.”

 

Die von Breton in Kursivbuchstaben beschworene Rückkehr zur Fiktion ist heute dringlicher denn je. Wir haben zu viel Realismus, zu viel Realitätsabklatsch. Die Dinge nur wiederzugeben, genügt nicht.

 

Ich lag unter Bäumen und versäumte es, über Bäume zu schreiben.

 

In Vernier fiel Beck dreimal der Mikrophonständer ins Publikum, bevor er zum ersten Mal ein Stück ansagte. Und das war erst der Auftakt. Seine elektrische Gitarre gab den Geist auf, und schliesslich musste das tragbare Farfisa-Örgelchen neu angeschlossen werden. Man kann Beck alles durchgehen lassen, auch dass er nicht singen kann und Gitarre spielt wie ein Heilsarmist. Er ist DAS Popgenie unserer Zeit.

 

Er ist mit Kurt Cobain und Frank Zappa verwandt, eine Art Strassenmischung, könnte man sagen.

 

Ich halte ihn für grösser als Cobain und Zappa. Zumindest was seinen ungeheuren Einfallsreichtum an Melodien, Rhythmen und ungewöhnlichen Akkordfolgen betrifft. Dieser Einfallsreichtum kommt völlig locker und ungekünstelt daher, wie aus dem Ärmel geschüttelt. Es fehlt darin das Brachiale von Cobain, aber auch das allzu Virtuose von Zappa.

 

In Sachen Subtilität und Tiefe bleibt Suzanne Vega unangefochten. Sie bleibt die Hohepriesterin, wenn es um die "magische" Verbindung von Musik, Stimme und Wort geht. Vegas Stimme ist das akustische Pendant zum Lächeln der Mona Lisa.

 

Mein Onkel behauptet, er sähe mich jeden Morgen um halbsieben durch den Schützenmattpark joggen. Er findet das ganz ausserordentlich und erzählt es überall herum. Eigentlich müsste ich die Sichtmeldung dementieren. Eine simple Verwechslung. Ich bin nicht der Jogger. Meine Güte! Es gibt mich anscheinend doppelt. Dieser Doppelgänger, mag er joggen, wenn ich noch im Bett liege, mag er sich sportlich betätigen. Für mich wäre das nichts. Andererseits bin ich ihm zu Dank verpflichtet. Er stärkt nicht nur mein öffentliches Ansehen. Er hält uns auch beide gesund.

 

Jugend und Jugendlichkeit.... Jugend ist die Hölle, Jugendlichkeit der Himmel.

 

Nicht diese oder jene Sphäre sei dein Element, sondern die Beweglichkeit... Also Journalismus? Oder doch eher Schreibklausur? Warum überhaupt schreiben? Warum nicht Kuchen backen?

 

Wenn ich eine Photographie von Kafka betrachte, sehe ich den ungeschminkten Dimitri.