Besuch im Armenhaus

 

Im letzten Frühjahr besuchte ich mit einer humanitären Hilfsorganisation das “Armenhaus Europas”. Die Rede ist von Rumänien, einem Land, das einem osterweiterten Turbokapitalismus frönt, aber in gewissen ländlichen Gegenden noch Zustände kennt, die man als Schweizer Wohlstandsbürger kaum für möglich hält. Kinder tragen mitten im Winter keine Schuhe, es fehlt überall am Nötigsten, und das WC befindet sich bei den meisten Häusern hinter dem Stall: ein von Fliegen wimmelndes “Scheissloch” im Boden.

 

Als wir in Rumänien ankamen, schneite es heftig. Wir waren in Radautz stationiert, einem kleinen Städtchen im Nordosten des Landes, nahe der Grenze zur Ukraine. In der angemieteten Lagerhalle standen die Hilfsgüter in Säcken und Schachteln verpackt bereit. Der Schnee lag bereits meterhoch. Für die Sattelschlepper war es unmöglich, an die Laderampe zu fahren, geschweige denn in das Dorf hinaus, das die erste Hilfslieferung erhalten sollte. Die Schneeräumung kam nur sehr schleppend voran. Um uns die Warterei zu verkürzen, beschlossen wir, eine nicht allzu beschwerliche, aber interessante und "sachdienliche" Besichtigung zu unternehmen. 2007 hatte sich in der Nähe von Radautz eine österreichische Holzverarbeitungsfabrik niedergelassen. Im gleichen Jahr war Rumänien in die EU aufgenommen worden. Das eine hing mit dem andern ganz offensichtlich zusammen. Auf Anfrage gewährte uns die Betriebsleitung eine Führung durch die etwa 50 Hektaren grosse Anlage. In den lärmerfüllten Hallen, in denen das Rundholz zersägt, kleingehächselt und zu Spanpressplatten verarbeitet wurde, fiel uns auf, dass an den Maschinen kaum jemand zu sehen war. Alles lief vollautomatisch. In einem Kontrollraum voller Bildschirme und blinkender Armaturen sassen drei bis vier blau bekittelte Spezialisten gelangweilt auf ihren Drehstühlen und nippten an Kaffeebechern. Es sah aus wie in der Steuerungszentrale eines AKWs. Nach der Besichtigung stand uns einer dieser Spezialisten Red und Antwort. Er war Rumäne, konnte aber sehr gut Deutsch, er hatte lange in Österreich gearbeitet. Seine Firma vertrat er mit der ehrlichen Begeisterung, die man von ihm erwarten durfte; das Salär war stattlich, was er nicht direkt zugab, aber doch verschämt andeutete. Neben ihm waren vielleicht noch fünf oder sechs andere Rumänen hier beschäftigt. Die Glücklichen! Die Holzverarbeitungsfirma präsentierte sich als Wohltäterin. Für die Steuerverwaltung von Radautz und die Handvoll Rumänen, die hier ihr Brot verdienten, war sie das zweifellos. Auf die etwas naive Frage, ob die Fabrik denn nicht Arbeitsplätze vernichtet habe, verwies der Spezialist auf die Gesetze transnationaler Ökonomie. Und drückte zugleich sein Bedauern aus. Natürlich seien die meisten einheimischen Holzsägereien - ausnahmslos Familienbetriebe - von der Bildfläche verschwunden. Er leugnete das Offensichtliche nicht. Er wusste sehr wohl, dass es hier nichts zu beschönigen oder zu verschweigen gab, die Folgen des europäischen Binnenmarkts sind in Rumänien überall zu sehen: das Land wird systematisch zur Ader gelassen, ganze Bevölkerungsteile wandern aus, gewisse Regionen wirken schon regelrecht entvölkert. Ein Exodus mit unabsehbaren Folgen. Wer fortgehen kann und fortgehen muss, der geht fort. Am bereitwilligsten exilieren natürlich Fachkräfte, also Leute, die ein Land wie Rumänien eigentlich dringend benötigt. Wer über eine gute Qualifikation verfügt, etwa einen Hochschulabschluss, sieht seine Chance überall, nur nicht in Rumänien. Aber eigentlich genügt schon eine Matur, um dem Land definitiv den Rücken zu kehren. Vor allem die Jungen suchen so schnell wie möglich das Weite, den Anschluss an West- und Mitteleuropa. Nicht wenige wandern sogar nach Amerika aus. Der Drang nach Westen ist verständlich: wer will schon sein “Humankapital” einem Land zur Verfügung stellen, das in Cliquenwirtschaft und Korruption versinkt? Das von einer Bürokraten-Mafia beherrscht wird, die sich schamlos an EU-Geldern bereichert und mit dem Segen aus Brüssel das eigene Volk an der Nase herumführt?

 

Die EU-Dominanz ist in Rumänien unübersehbar. Unübersehbar sind auch die klaffenden Gegensätze. Blitzblank gepützelte McDonalds-Filialen neben Müllhalden, auf denen Roma-Kinder nach verwertbaren Abfällen suchen. Und ein paar Kilometer weiter ein verhutzeltes, altes Bäuerchen, das sein Feld noch mühsam mit Handpflug und Pferd bestellt. Die Multis erwirtschaften fette Profite, während das einfache Volk teils an den Rand gedrängt, teils via Personenfreizügigkeit ausser Landes geschafft wird. Wenn im rumänischen Alltag überhaupt etwas floriert, dann ist es der oligarchische Bürokratenfilz: eine Hinterlassenschaft des Ceausescu-Regimes. EU-Verordnungen haben diesen Filz quasi unter Schutz gestellt. Ob Feudalkommunismus, Turbokapitalismus oder EU-Bürokratie, die Mentalität ist die gleiche geblieben. Ex-Geheimdienstleute der Securitate und viele ehemalige Parteibonzen besetzen nach wie vor gesellschaftliche Schlüsselstellen. Für sie ist das System der Europäischen Union eigentlich ein alter Hut. EU-Abgeordnete aus Rumänien bekommen das 20-fache des rumänischen Durchschnittsgehalts; nicht zufällig erinnert das an die "guten alten" Zeiten des blutsaugerischen Feudalkommunismus. Im Jahr 2011, als ich zum ersten Mal einen Hilfsgüterkonvoi begleiten durfte, erlebte ich den Auftritt eines kommunistischen Bürgermeisters. Der war geradezu die Karikatur eines Ostblock-Funktionärs: ein pummeliger Herr mit Hut und Hornbrille. Als in seinem Dorf die Hilfsgüterverteilung anlief, warf er sich gehörig in Positur, stolzierte herum wie ein König und nahm unsern Chef kurz beiseite, um ihm ein Zettelchen zuzustecken. Die hingesudelte Notiz war nichts anderes als eine private Wunschliste. Unter anderem wünschte sich der Herr Bürgermeister ein paar Velos für seinen Privatgebrauch. Natürlich ging unser Chef nicht darauf ein. Er entschloss sich, sämtliche Velos zurückzubehalten und sie irgendwann später in einem Kinderheim abzugeben. Niemand sollte bevorzugt oder benachteiligt werden, also war es besser, die Velos wieder mitzunehmen. Doch als die Verteilung vorüber war, mobilisierte der Bürgermeister die Polizei und liess die begehrten Vehikel kurzerhand beschlagnahmen: als Wegzoll. In Rumänien sind Bestechung, Betrug und Schieberei nichts Aussergewöhnliches. Eine Hilfsorganisation braucht dort gute Kontakte, ganz allgemein, und im Besonderen zur einheimischen Mafia. 

 

Mit Zuschüssen aus der EU-Kasse hat man in Rumänien ein dichtes Strassennetz gebaut. An sich ja eine gute Sache. Wäre da nicht diese merkwürdige Autobahn, die wie von einem Kuchenmesser abgeschnitten aufhört, weil das Geld aus unerfindlichen Gründen versickert ist. Ja, und wäre da nicht die Tatsache, dass die perfekten Strassen im dünn besiedelten Nordosten entlang der ukrainischen Grenze kaum benutzt werden und trotzdem unterhalten werden müssen. Ja, und wäre da nicht die Tatsache, dass die daheimgebliebene Landbevölkerung fast nur noch aus Kindern und alten Leuten besteht, die gar nicht Auto fahren können oder dürfen (wenn sie sich denn überhaupt Autos leisten können) und sich vorwiegend mit Hilfe kleiner Einspänner fortbewegen. Ich weiss nicht genau, was sich die EU-Bürokraten in ihrem Subventionseifer überlegt haben. Vielleicht haben sie gedacht: pflastern wir mal ein paar Strassen hin, dann kommt der Wohlstand von alleine. Sorgen wir für die Infrastruktur, dann kommt der Aufschwung von alleine. Die EU baut potemkische Dörfer, damit etwas getan ist. Damit es in diesem Entwicklungsland ein bisschen nach Entwicklung aussieht. Nicht schlecht. Mit dem ganzen Geld, das hier infrastrukturell verlocht wurde, hätte man ohne weiteres eine Brücke zum Mond bauen können. Das wäre sinnvoller gewesen. Die EU ist ein Popanz, der sich überall wichtig macht, aber eigentlich überhaupt nichts Sinnvolles bewirkt. Wir Schweizer wissen das ja. (Bis auf ein paar SP-Idioten, die immer noch vom EU-Beitritt träumen). Trotzdem sollten wir den Mund nicht zu voll nehmen. Wir haben leicht reden. Wir brauchen die EU nicht. Den grössenwahnsinnigen Traum von einem Vereinigten Europa können wir getrost links liegen lassen: wir haben Napoleon überlebt, wir haben Metternichs Grossmachtspolitik überlebt, wir haben Hitler überlebt, und wir werden auch die Brüsseler Diktatur überleben. Überlebensfähig ist nicht der Dinosaurier, sondern das kleine Nagetier, das sich durchbeisst. Der Schweizer hat seine Geschichtslektion gelernt. Er behauptet sich dank seiner Nagezähne - und passt sich doch irgendwie an. Wie man sich durchbeisst, sich anpasst, sich durchwurstelt, wissen auch die ewigen Einknicker und Superopportunisten, die es in der Schweiz schon damals gegeben hat, als sich gewisse gutbetuchte Kreise weder vom Krieg noch vom eigenen Patriotismus davon abhalten liessen, mit Hitler Höflichkeiten auszutauschen, um mit ihm ins Geschäft zu kommen. Hauptsache, es rentiert. Wenn es ums Geschäft geht, hat man in der Schweiz gelernt, sich mit jedem zu arrangieren. Dass ausgerechnet die geistigen Nachfahren der hitlerfreundlichen Wendehälse und Geschäftlimacher jeden als "braun" beschimpfen, der für eine souveräne Schweiz eintritt, spricht wohl für sich. Für die Rumänen sieht das etwas anders aus. Sie stehen so oder so auf der Verliererseite, ob sie nun zur EU gehören oder nicht. Aber dank der EU gewinnen sie wenigstens ein Stück Ansehen, bekommen sie die internationale Geltung, die ihnen ansatzweise aus dem toten Winkel heraushilft. Da muss man fair bleiben, auch wenn man die EU und den Fettsack Barroso zum Teufel wünscht.

 

Über die Hilfsaktionen in Rumänien habe ich zwei kurze Filme gedreht. Bei den öffentlichen Vorführungen wurde ich häufig nach meiner “persönlichen Betroffenheit” gefragt. Hat mich die sichtbare Armut bedrückt oder wütend gemacht? Hat es mich beschäftigt, dass so etwas in einem europäischen Land möglich ist? Ja, zuweilen schon, aber nicht so sehr, wie man vielleicht denken könnte. Ich halte mich beileibe nicht für abgebrüht, aber ich kann es nicht anders sagen: das rumänische Wetter hat mir stärker zugesetzt als die rumänische Armut. Wenn ich filme, kann ich von dem, was ich filme, gar nicht betroffen sein. Meine einzige Sorge beim Filmen sind die Bilder. Wenn ich, etwas überspitzt gesagt, einen beinamputierten Bettler filme, während es in Strömen regnet, habe ich mehr als genug damit zu tun, die Kamera trocken zu halten und den Lichtmangel auszugleichen. Die Emotionen überlasse ich den Zuschauern. Betroffenheit ist nicht mein Ding. Ich glaube sowieso nicht, dass wir hier in der Schweiz in einer heilen Welt leben. Was in Rumänien geschieht, geschieht auch bei uns: nur viel subtiler und weniger sichtbar. Und in gewisser Weise spiegelverkehrt. Unsere Wohlstandsinsel hat ein gewaltiges Problem. Bei einer Bevölkerungszahl, die bis in zehn Jahren auf etwa 9 Millionen Menschen angewachsen sein wird, kann das auf Dauer mit dem Wohlstand nicht mehr gutgehen. Und warum wohl? Man kann hier eine einfache Rechnung aufmachen. Der Wohlstand wächst und wächst: aber nicht für die breite Masse, sondern für eine schrumpfende Minderheit, die einer rasant wachsenden Mehrheit billiger Arbeitskräfte den Takt vorgibt und sie bis aufs Hemd auszieht. Das heisst: unser Wohlstand hat eine exponentielle Kehrseite. Wir haben es mit einem Schneeballsystem zu tun, einem fatalen Kumulationseffekt, dessen Logik darin besteht, dass eine stark anwachsende Menschenmasse für das Wohlergehen einiger weniger Privilegierter verfügbar und manipulierbar gemacht werden muss. In der Mitte unserer Gesellschaft zeigt sich eine neue Armutsfalle, dreht sich eine Billiglohn-Spirale, die selbst diejenigen erfasst, die noch einigermassen gut dastehen: gegen den drohenden Abstieg kämpft nahezu jeder, der auf bezahlte Arbeit angewiesen ist. Und so kämpft eigentlich jeder gegen jeden. Es herrscht Krieg. Die heutige Arbeitswelt, in der sich jeder selbst der Nächste ist, macht die Menschen zur Manipulationsmasse, und wer dem Druck nicht standhält, zerbricht, geht drauf. Wer nicht blind und vernagelt durchs Leben geht, wird sich des Eindrucks kaum erwehren können, dass sich hier eine Katastrophe anbahnt. Sogar für gut ausgebildete Schweizer haben sich die Arbeits- und Anstellungsbedingungen derart verschlechtert, dass es mir keineswegs unangebracht erscheint, diesen Zustand als "Krieg" zu bezeichnen. Wer das doppelte Handicap hat, schon etwas älter und Schweizer zu sein, wird systematisch an die Wand gespielt, wegrationalisiert, eliminiert, in die Verwurstungsmaschinerie einer staatlich gestützten Beschäftigungs- und Hinhaltetherapie geschickt, die niemandem etwas bringt ausser denen, die daran verdienen. Und deren eigentliche Aufgabe darin besteht, die Arbeitslosenstatistik aufzuhübschen. Eine scheinheilige Betreuungsindustrie aus Sozialhelfern, Psychologen und Beamten zieht aus dem politisch verschuldeten ökonomischen Unglück ihrer Mitmenschen grossen Profit. Aber die Langzeitarbeitslosigkeit nimmt trotzdem zu. Und politisch ändert sich überhaupt nichts. Schuld an diesem Misstand ist nicht einfach nur die allgegenwärtige Globalisierung. Sie ist höchstens ein Alibi, eine hilflose Floskel, die den wahren Sachverhalt verschleiert. Den Hauptschuldigen kann man ziemlich klar benennen. Die sowohl dirigistische als auch neoliberale EU-Ideologie (Menschen = verschiebbares Kapital) setzt auf Gewinnauspressung durch Massenmigration und züchtet eine Zweiklassen-Gesellschaft heran. In ihr kumuliert sich Reichtum ebenso wie Armut. Dummerweise hat die Schweiz, obwohl nicht zur EU gehörend, diese Ideologie übernommen. Einerseits aus kurzsichtigen Wirtschaftsinteressen heraus, andererseits auf Druck von aussen. Dagegen regt sich natürlich Widerstand. Nur kommt dieser Widerstand nicht von links, er kommt - ach wie peinlich für die sozial Denkenden und Zeitkritischen! - aus dem Bratwurst-Lager der SVP. Das Brisante an dieser Situation ist die Vertauschung der politischen Rollen. Auf einmal stehen die Linken und Grünen auf der Seite der Menschenausbeuter, und die Rechtskonservativen nutzen das Protest- und Wutpotential der "einfachen Bevölkerung", um gegen Unterdrückung und Versklavung zu kämpfen. Die Windrichtung hat sich für alle politischen Akteure radikal gedreht. Wenn auch nicht unbedingt zum Vorteil der Grünen, Linken, Mitteparteien und Wirtschaftsverbände. Sie basteln sich eine internationalistische Utopie-Schweiz, die in der Theorie wunderbar funktioniert, in der Praxis jedoch auf eine Katastrophe zusteuert. In der irrigen Meinung, Fortschritt, Weltoffenheit und soziale Gerechtigkeit müssten mit einer schrankenlosen Migration und einer alles verschlingenden Wirtschaftswachstumsdynamik verbunden sein, planen und regieren sie an einem Volk vorbei, das sich den skrupellosen Wachstumswahn nicht länger gefallen lässt. Zumal nur eine dünne Elite von der wirtschaftlichen Überhitzung profitiert. Im allgemeinen nimmt die Lebensqualität ab, der Normalbürger wird geschröpft, der Mittelstand in die Armut gedrängt: die Kluft zwischen Arm und Reich vergrössert sich auch bei uns dramatisch. Zu den "natürlichen" Folgen der Massenmigration gehört auch eine perverse Landschaftsverschandelung, kombiniert mit einem explodierenden Energiebedarf, der den Atomausstieg illusorisch erscheinen lässt. Die Grünen schiessen sich hier ins eigene Bein. Aber auch die Linken. Sie alle politisieren widersprüchlich und unglaubwürdig. Und dann giessen sie noch Öl ins Feuer, indem sie die Anbindung an die EU verstärken wollen und den an sich gar nicht so unklugen Souverän als unfähig hinstellen. Dass dabei demokratische Grundrechte schlechtgeredet werden, erstaunt nicht. Für jene Clique, die die Meinungsführerschaft beansprucht und den politischen Kurs der Schweiz an die EU angleichen möchte, ist die direkte Demokratie ein Störfaktor. Angesichts dieser Situation kann man über die SVP und ihren Chefstrategen schimpfen, soviel man will: der Erfolg gebührt letztlich dem, der die Realität erkennt. Die SVP hat Erfolg, weil sie im Recht ist - und nicht weil sie populistisch ist. Und das sage ich, obwohl ich eher links stehe, schon von meiner Herkunft her. Mein Grossvater, Schreiner von Beruf, war ein engagierter Sozialdemokrat, ein Gewerkschafter und Parteigenosse von echtem Schrot und Korn. Eine sonderbare Mischung aus Bünzli und Revoluzzer. Um den Pfarrer zu ärgern, trug er beim Sonntagsgottesdienst das Maiabzeichen gut sichtbar am Revers. So habe ich den rüstigen, zackig auftretenden alten Mann als Kind noch erlebt. Damals, in den Zeiten von Willi Ritschard und Niklaus Meienberg, gab es noch richtige Sozis. Sozis mit Schwielen an den Händen. Stolze Arbeiter. Barrikadenkämpfer und phantasievolle Polemisierer, denen es nicht um wohlfeile politische Korrektheit ging, sondern darum, den stinkenden Fisch beim Namen zu nennen. Doch was ist aus den linken Idealen geworden? Mein Grossvater würde sich im Grab umdrehen, und mit ihm wahrscheinlich auch Willi Ritschard und Niklaus Meienberg. Wenn man sieht, was sich heutzutage alles links nennt, greift man sich an den Kopf: die ganze Liga der Hochschulschwätzer, der überbezahlten Beamten, der Sozialarbeiter mit systemtherapeutischen Hintergrundserfahrungen, der gender-gemainstreamten Political-Correctness-Schwuchteln, der verwöhnten Akademikersöhnchen mit veganen Klimaschutzambitionen, der halbdebilen, friedensbewegten Regenbogenfähnli-Schwinger und Discountpreis-Spatzifisten, der in-vitro-befruchteten, velosattelliebenden, ökogestrickten Freizeitlesben, der staatssubventionierten Kulturschaffenden mit querdenkerischem Migrationshintergrund etc. etc.... Diese Leute sind unfähig, einen Nagel grad einzuschlagen. Und die wollen links sein? Für diese Pseudo-Linken ist ihre Ideologie eine Art Hängematte, mit der sie sich in ein gutmenschliches Wohlgefühl hineinschaukeln, in eine konstruierte Realität, aus der alle Dissonanzen und Unzulänglichkeiten wegreglementiert sind. Plötzlich ist es verboten, das Wort "Neger" zu benutzen. Oder man darf nicht mehr "dämlich" sagen, weil man damit die Damen diskriminieren könnte. Oder es wird gegen Kinder vorgegangen, die mit Käpselipistolen spielen. Als Jugendlicher hatte ich eine andere Vorstellung von Linkssein. Unter einem Linken stellte ich mir jemanden vor, der Machtsysteme angreift, gegen Ausbeutung und Unterdrückung kämpft. War vielleicht naiv, aber so dachte ich damals. Mit 18 war ich kurzzeitig bei der PdAS (Partei der Arbeit der Schweiz), und als die Alte Stadtgärtnerei geräumt wurde, prügelte ich mich todesmutig mit der Polizei. Oder besser gesagt: als die Polizei anrückte, rannte ich im Tränengasnebel todesmutig davon. 1988 war mein persönliches 68. Und wie der Zufall so spielte: in jenem turbulenten Jahr, als unsere Autonomen, Freizeit-Sozis und Schlabberpulli-Aktivisten nochmals tüchtig auf die Pauke hauten, bevor der Ost-Sozialismus endgültig zusammenkrachte, lernte ich jemanden kennen, der zum Dunstkreis der RAF gehörte. Dieser Typ sprach mir das Talent zum linkspolitischen Widerstandskampf rundweg ab, mir fehle die Gradlinigkeit, ich sei ein Januskopf, ein typischer Kleinbürger, vielleicht sogar ein Protofaschist. Dennoch führten wir lange Diskussionen, und ich fand es recht spannend, einem echten (?) RAF-Terroristen in den Kopf schauen zu dürfen. Die RAF war mir sowohl sympathisch als auch unsympathisch. Eine Verbrecherbande? Mag sein. Die letzten zehn Jahre (Globalisierung, EU-Politik) haben uns gezeigt, wohin der totale und totalitäre Kapitalismus führt. Das Witzige oder Tragische daran: im nachhinein bekommt die RAF Recht. Eigentlich lagen diese Typen ja schon irgendwie richtig, und es ist nur eine Frage der Zeit, bis eine RAF 2.0 auftaucht, alle soziopolitischen Anzeichen sprechen dafür. Allerdings wird das kein Linksextremismus mehr sein, wie man ihn einmal gekannt hat, sondern ein völlig neues, unberechenbares Amalgam aus unterschiedlichsten Positionen und Haltungen. Dass sich Links- und Rechtsextremisten, anstatt sich gegenseitig zu verhauen, was ja ziemlich stupid ist, gegen den Raubtier-Kapitalismus zu einer "Synthese des grossen gemeinsamen Nenners" zusammenschliessen könnten, ist gar kein so unrealistisches Szenario. Ob das europaweit installierte neoliberale Entsolidarisierungsprogramm von links oder von rechts angegriffen wird, ist eigentlich egal. Man darf da nicht so wählerisch sein. Die schülerhafte Unterscheidung zwischen links und rechts, zwischen bösen Nazi-Glatzen und guten, kraushaarigen Linksintellektuellen geistert zwar noch in vielen Köpfen herum, ist aber untauglich, um die heutige Aufstellung im Spektrum des politischen Extremismus auch nur annähernd wiederzugeben. Viele Marxisten haben, ohne den Marxismus aufzugeben, klammheimlich das Lager gewechselt und betätigen sich nun rechtsaussen, oft im Windschatten von Rechtskonservativen, so wie umgekehrt die ganze Autonomen-Szene infiltriert ist von Antisemiten, Hamasfreunden und faschistischen Arafat-Tüchli-Schlägern, die ihre Springerstiefel bei Prada kaufen. Rechtsradikale machen sich die linke Systemkritik zu eigen, während die Linksradikalen herumpöbeln und brandschatzen und jeden Krawattenträger oder Albino als "Nazisau" beschimpfen. Wie auch in der normalen Politik funktionieren hier die herkömmlichen Zuschreibungen nicht mehr. Die Intelligenz hat sich von links nach rechts verschoben, die Pöbelhaftigkeit von rechts nach links: mit gewissen Ausnahmen freilich, die das Ganze noch komplizierter machen. So kommt es, dass die meisten hausgemachten extremistischen Bewegungen falsch eingeschätzt werden. Und wehe, sie schliessen sich zusammen! Über kurz oder lang wird ihnen wahrscheinlich gar nichts anderes übrig bleiben. Das feudalistisch-konsumistische Repressionssystem (Banken, Grosskapital, EU-Instanzen, Politelite) kann von innen heraus kaum noch reformiert werden. Auf die Reformbemühungen einer normalen Bürgerbewegung würden die Mächtigen mit systemgelenkter Medienhetze und einer einseitigen Verschärfung von Law and Order reagieren. In den Scheindemokratien von Brüssels Gnaden wissen die Politiker genau, was das Volk wollen muss. Und wehe, es will etwas anderes! Deshalb ist eine Revolution unausweichlich, und für eine Revolution braucht es nun mal Extremisten und Krieger, so wie es für einen Umzug Möbelpacker braucht. Die entsprechenden Einwände liegen auf der Hand und klingen recht vernünftig: Gewalt sei doch keine Lösung, Gewalt schaffe nur Gegengewalt... Gewaltverzicht aus Prinzip? Erzählen Sie das Ihrem Zahnarzt! Gewalt ist sehr wohl eine Lösung. Kann man ein Unrechtssystem beseitigen, indem man ihm gut zuredet? Viele Errungenschaften, die uns heute so selbstverständlich vorkommen, dass sie in Gefahr geraten, leichtfertig geopfert zu werden, haben ihre Existenz unzähligen blutigen Kriegen und Revolutionen zu verdanken. Zum Beispiel Demokratie. Zum Beispiel Säkularismus. Etliche Paläste wurden gestürmt, etliche Barrikaden errichtet und hektoliterweise Blut vergossen, damit wir heute friedlich abstimmen gehen können und uns nicht der Willkür irgendwelcher absolutistischer Autokraten oder Theokraten beugen müssen. Noch können wir uns dieser Errungenschaften erfreuen. Aber wie lange noch? Da und dort erodieren sie schon deutlich. Der von einer selbstgefälligen Machtelite vorangetriebene Ökonomisierungsdruck richtet sich schon längst gegen den politischen (= selbstbestimmten) Souverän. Vielleicht müssten wir einfach begreifen, dass unsere Grundrechte nicht in Stein gemeisselt sind. Auch nicht in einer nominellen Demokratie: denn Geld ist alles andere als demokratisch. Geld erzeugt ein massives Machtgefälle. Und deshalb müssen die Grundrechte auch in Gesellschaften, die offiziell nicht autokratisch sind, ständig wieder neu behauptet und erkämpft werden. Und vielleicht sogar - im äussersten Fall - mit Gewalt. Denn für die Mächtigen ist es natürlich schön bequem, wenn die Untertanen möglichst friedfertig sind. Wenn sie sich ein schlechtes Gewissen einreden, sobald sie eine aggressive Regung verspüren, einen leisen Unmut "gegen die da oben". Wenn sie sich aufgrund ihres notorisch schlechten Gewissens (Gewalt = ganz, ganz böse) darauf beschränken, mit Wattestäbchen und guten Argumenten zu kämpfen. Nein, funktioniert leider nicht immer so gut, vor allem dann nicht, wenn die Meinungsfreiheit dadurch, dass sie grundsätzlich gewährleistet wird, eine systemerhaltende Alibi-Funktion zugewiesen bekommt. "Diskutiert ihr mal schön, tobt euch in den Leserforen aus, Hauptsache es ändert sich nichts..." Machen wir den Mächtigen einen Strich durch die Rechnung, kündigen wir das Stillhalteabkommen auf. Verdient haben sie es nicht. Was viele Pazifisten und Gandhi-Bewunderer verkennen: gewaltfrei vollzieht sich eine Revolution nur dort, wo ein System implodiert. Wo es quasi aus sich selbst heraus den Geist aufgibt. Wie damals in der DDR: die ging letztlich zugrunde, weil sie politisch und wirtschaftlich am Ende war. Die war schon erledigt, bevor sie überhaupt mit aktivem oder passivem Widerstand konfrontiert wurde. Ein Windhäuchlein genügte - und das Ganze fiel in sich zusammen. Diese Voraussetzung haben wir heute nicht, im Gegenteil. Wer heute eine Revolution machen will, kommt nicht sehr weit, wenn er nur Kerzen anzündet. Er muss auch Dynamitstangen anzünden.

 

Aber von den Extremisten wieder zu den Normalos. Da ich in einem gemässigten linksbürgerlichen Milieu grossgeworden bin, verstehe ich die Macken und Denkschubladen dieses Milieus sehr gut. Zum Beispiel auch den berühmten Anti-SVP-Reflex. Dieser Reflex ist billig. Es ist ein Kinderspiel, die Bratwurst-Politiker der SVP als Primitivlinge hinzustellen: sie sind grösstenteils sehr einfach gestrickt. Sie betreiben Holzschnitzerei. Sie zeigen Kante, neigen zu groben Vereinfachungen. Ihre Parolen sind lachhaft, ihre Werbeplakate dumm. Aber es kommt eben nicht auf die Worte und Werbeplakate an, sondern auf die richtigen Entscheidungen und Vorstösse. Klugschwätzer gibt es genug, und wo es Bildung gibt, gibt es eben auch Einbildung: ein verblendetes Elitedenken. Ob der Weichensteller klug redet oder ein geistiger Simpel ist, ist mir eigentlich egal: Hauptsache er stellt die Weiche so, dass der Zug nicht entgleist. Ihren Aufstieg verdankt die SVP der Blindheit einer linksliberalen Ideologie, die drauf und dran ist, aus der Schweiz einen EU-hörigen Satellitenstaat zu machen. Wenn die Schweiz entgleist, dann nicht deshalb, weil die dumpen Rechtskonservativen vor der EU warnen, sondern weil die illusionär agierenden Mittelinks-Politiker nicht kapieren, dass direkte Demokratie und EU-Diktatur eine gefährliche Mesalliance bilden. Als ein zutiefst antidemokratisches Elite-Projekt fördert die EU nur ihresgleichen: die Eliten und Kapitalmächte. Das Problem, an dem die Schweiz zu zerbrechen droht, ist nicht die SVP, sondern eine multinationale Grossmacht, die die Ärmsten ausbeutet und die Reichen dazu einlädt, sich noch stärker zu bereichern. Das ist denn auch der Grund, weshalb mich die rumänische Misere nicht im geringsten schockiert hat. So eine furchtbar andere Welt ist das gar nicht! Den meisten Schweizern geht es noch recht gut: aber wie lange noch? Die Fassade bröckelt. Um Klartext zu reden: bei uns dreht sich die gleiche Spirale wie dort. Nur sind wir Schweizer nicht ganz so obrigkeitshörig wie die Rumänen. Wenn ich sage "wir", meine ich nicht die Regierung. Sie ist nicht die Schweiz. Das Ausbeutungssystem, das die EU unter dem Etikett der Personenfreizügigkeit installiert hat, findet in Bundesbern willfährige Helfer und Propagandisten, die jeden Widerstand kräftig diffamieren. ("Rechtspopulismus"). Indessen ist es einfach eine Tatsache, dass die Bevölkerung die Schnauze voll hat. Das kann gefährlich werden. Alles läuft auf einen Riesenknatsch zu, vielleicht sogar eine Revolution. Ich sage "vielleicht", weil es in der Schweiz dank der direkten Demokratie noch die Chance einer halbwegs friedlichen Übereinkunft gibt. Für die EU-Länder sehe ich diese Chance weniger. Dort wird sich wahrscheinlich etwas Ähnliches ereignen wie 1989 in Rumänien. Damals ist den Rumänen der Geduldsfaden gerissen, trotz Obrigkeitshörigkeit. 

 

 

November 2013