Der Geheimbunker

 

In Grossvaters Rucksack schwappte und gluckste das Wasser in der Thermosflasche. Wir machten einen Sonntagsbummel. Grossvater nannte ihn “gemütlich”. Für mich, den Achtjährigen, war es allerdings gar nicht so leicht, mit Grossvater Schritt zu halten. Ich musste fast rennen. Grossvater war ein Zweimeter-Riese, und er marschierte wie ein Grenadierjäger.

 

Nach einer Stunde etwa erreichten wir ein kleines Juradorf zwischen dunkel bewaldeten Felshängen. Das einzige Restaurant war geschlossen, das ganze Dorf wie ausgestorben. Fenster mit zerschlissenen Gardinen. Misthaufen. Grossvater blieb stehen und sah sich um. Er kratzte sich am Kopf. Währenddessen rannte ich zum Dorfbrunnen und machte Anstalten, auf den Steintrog zu klettern, um mit dem Mund nach dem Wasserstrahl zu schnappen. Grossvater pfiff mich zurück. Er schüttelte die Thermosflasche. Durst? fragte er. Ich nickte. Dann komm her, sagte er. In einem schier übermenschlichen Kraftakt schraubte er den Verschluss auf, der immer so fest zu war, dass nur Grossvater ihn aufbrachte. Zuerst trank Grossvater, dann ich. Ich trank wie ein Verdurstender. Das Wassers lief mir übers Kinn und in das T-Shirt hinein. Als ich fertig war, verstaute Grossvater die Thermosflasche im Rucksack, schnürte den Rucksack zu, machte die Schnallen fest und schlüpfte mit beiden Armen in die Riemenschlaufen. Wenn du Hunger hast, sagte er, musst du einfach laut schreien.

 

Als wir weitermarschierten, staunte ich nicht schlecht. Lag es an ihm? Oder doch eher an mir? Ich konnte mit ihm mithalten, ohne aus der Puste zu kommen. Hier sind wir durchmarschiert, sagte Grossvater unvermittelt. In der ersten Kriegswoche, anno neununddreissig, präzisierte er. Da, wo du trinken wolltest, habe ich damals meinen Durst gelöscht. Was ich besser gelassen hätte! Ein Woche lang habe ich Dünnschiss gehabt, Bauchkrämpfe. Weiss der Teufel, was ich mir da aufgelesen habe. Jedenfalls sind wir hier durchmarschiert. Wir waren auf dem Weg in unser Kantonnement. Ich war jung, weisst du. Ich freute mich auf die Anschleichübungen, auf das Marschieren im Matsch, das Schiessen. Der Kopf war mir rasiert worden, und ich war feldgrün eingekleidet. Wollen heisst wollen müssen, dachte ich. Ich war Soldat. Und ich wollte es. Man drückte mir ein Gewehr in die Hand, ein Gerät, so staunenswert und ursprünglich wie Pfeil und Bogen. Damit konnte ich dem erstbesten Deutschen, dem es einfiel, bei uns einzufallen, eine Kugel verpassen.

 

Der Weg schlängelte sich um ein Gehöft herum. Die Sonne brannte. Dicht gedrängt am Waldrand ein paar Kühe. Es ging steil bergauf, auf allen Seiten ging es in die Höhe. Die Landschaft war urtümlich und wild, wie für Indianerspiele gemacht. Im Gestrüpp des uralten Kletterwaldes türmten sich Felsen. Ich hockte mich hin, um meine Schnürsenkel neu zu binden. Grossvater nahm den Rucksack ab und setzte sich zu mir ins Gras. Wir teilten uns eine Toblerone.

 

Schau dich um, sagte Grossvater. Dir sagt diese Landschaft vielleicht nichts. Aber mir kommt sie sehr bekannt vor. Ich weiss noch genau, wohin wir gerannt sind mit unserm Gepäck, wohin wir uns geworfen haben, wenn wir übungshalber unter Beschuss kamen. Sogar meinen Nasenabdruck kann ich noch sehen im Gras. Hier, siehst du? Diese Delle, die ist von mir. Hier lag ich. Ich schoss auf eine Strohpuppe. Es war grässlich. Ich hatte Heuschnuppen. Aber es musste sein. Wenn es nötig gewesen wäre, hätten wir unser Land, das wir Ländli nannten, bis zur letzten Kugel verteidigt. Wir waren die Landesverteidigung. Wir waren bereit. Der Hitler sollte etwas erleben, wenn der hier seine dumme Schnauzgosche reinhängen wollte. Dank mir und General Guisan musst du beim Morgenappell in der Schule nicht den Hitlergruss machen. Das heisst: wenn du deine Lehrerin, Frau Witschi, mit dem Hitlergruss begrüsst, bekommst du sicher keine gute Benimmnote, gell.

 

Und du hast gar keine Angst gehabt? fragte ich schaudernd, das angebissene Tobleronestück in der Hand.

 

Manchmal schon, lachte Grossvater. Man ist ja nicht zum Vergnügen im Militär. Der tägliche Drill und das tägliche Abhärtungsbad im Bergbach, das war nichts für halbe Männer. Sammelübungen, Gewehrgriffe klopfen, Taktschritte machen. Hart war das. Aber schlimm? Nein, mitnichten. Es war nicht viel anders als ein Schullager. Man strengte sich an und wurde gelobt. Man war faul und wurde gerügt. Doch die Hauptsache war, man lernte etwas. Zum Beispiel, wie man sich bei Feindberührung verhalten muss, damit man nicht ins Gras beisst. Radiesli-Manöver nannten wir das. Nahkampf auf Leben und Tod. Wir lernten uns mit Anstand und Würde zu verteidigen gegen einen Feind, der uns weit überlegen war. Die Deutschen waren Kampfmaschinen, mit denen war nicht zu spassen. Deshalb mussten wir immer saubere Fingernägel haben. Das war wichtig. Wichtiger noch als Kämpfen. Täglich gab es eine Sauberkeitskontrolle. Auch hinter die Ohren wurde geschaut. Und ob die Gamelle keinen Kratz hatte. Gar keine Frage, ich verstand mich darauf, immer im richtigen Augenblick den richtigen Eindruck zu machen: ich wollte Offizier werden. Als Offizier war man wer, als Offizier war man gemacht, war man geputzt und gestrählt, ein Heiratskandidat. Man durfte einen Degen tragen. Man hatte Zutritt zu jeder Tanzveranstaltung, Anspruch auf Logenplätze, Freikarten. Ja, den Offizieren ging es gut. Die bekamen parfümierte Liebesbriefe. Mit dieser Zielvorstellung machte ich gerne Dienst, ich hätte auch freiwillig gedient. Zumindest am Anfang. Was da im Militär auf mich zukam, roch irgendwie nach Abenteuer. Es gefiel mir. Ich war, um in der Soldatensprache zu reden, eine richtige Exerziersau. Man jagte mich durch jeden Scheissdreck, und ich genoss es. Kriechend, kletternd und springend tat ich mich hervor. Ich marschierte in der vordersten Reihe und brüllte, wenn ich aufgerufen wurde, so markerschütternd, dass sich meine Kameraden gewaltsam zusammenreissen mussten, um nicht loszuwiehern. Wer zu oft lachte, war bald nur noch mit WC-Putzen beschäftigt. Ich trieb auch Sport, weißt du, freiwillig. Frühmorgens wie abends machte ich meine hundert Liegestützen für Gott, Vaterland, Mutter Helvetia und den freien Geist.

 

Grossvater blieb stehen. Unten im Tal klapperte ein Mähdrescher. Auf der Bergmatte brüllten die Zikaden. Grossvater lüftete seine Dächlimütze, hastig fuhr er sich durch die schlohweisse Mähne. Er blinzelte mir zu. Bald haben wir es geschafft, versprach er. Und so war es auch. Nach gar nicht so langem Aufstieg erreichten wir ein Restaurant. An das geraniengeschmückte Gebäude war ein moderner Mastbetrieb mit Stall und riesigen Futtersilos angegliedert. Über dem Vorplatz knatterte eine Schweizerfahne. Auf einer Tafel las ich: “Parkplatz nur für Gäste.” Der Hofhund war zutraulich, ich konnte ihn streicheln. Neben dem Stall stand ein Traktor mit Holzgasgenerator, ein Schmuckstück aus dem Zweiten Weltkrieg. Die Gartenbeiz war offen. Grossvater bestellte eine kalte Ovo für mich, für sich selbst einen sauren Most.

 

In der Gegend, in der wir stationiert waren, erzählte Grossvater, während er den Bügelverschluss an seiner Mostflasche wieder zumachte, gab es drei kleinere Bunker, nichts von Bedeutung, soweit ich das beurteilen kann, Dachsbauten mit Sehschlitzen und Schiessscharten. Die Wände kalt und kahl, eine Karbidlampe und Strohmatten, die von Läusen nur so wimmelten. Kein Elektrisch, kein WC. Das war ja das Schöne am Militär: man pfiff auf die üblichen zivilen Ansprüche, auf Extravaganzen und Sonderwünsche. Man passte sich einander an. Wer hier stationiert war, wurde zum Kettenraucher, und auch der Frömmste gewöhnte sich das Fluchen an und fand Gefallen am Kartenspiel. Irgendwas tun mussten wir ja, die Zeit verging sehr gleichförmig. Fünf bis zehn Mann hoch sassen wir in einem dieser Bunker, meist um eine umgedrehte Munitionskiste herum, die als Ess- und Jasstisch diente, und nach dem Eindunkeln sangen wir wehmütige Soldatenlieder. Schunkelnd. Die Nacht ist ohne Ende... Ein schönes Lied. Ein Gefreiter schaute zum Rechten, hielt sich aber im grossen und ganzen zurück, um uns die Laune nicht zu verderben. Tag und Nacht hatte mindestens einer von uns ein Auge auf die Tanksperren und Minenfelder, die den feindlichen Durchbruch von Norden her aufhalten sollten. Würde es funktionieren? Niemand wusste es. Wir waren auf der Hut. Es ging das Gerücht, Hitler habe in Arosa Skiferien gebucht, natürlich inkognito, um sich heimlich mit einem dieser Fötzel zu beraten, die unser Land ans Messer liefern wollten. Und Mussolini sei kürzlich in Schinznach gesehen worden, beim Golfspielen mit einem verräterischen Toupet auf dem Kopf. Es hiess auch, General Guisan habe kurz vor Kriegsausbruch einen zentralen Jura-Bunker bauen lassen, den Grand Grind, eine Knacknuss nicht nur für die Deutschen, sondern auch für uns. Niemand wusste, wo dieser Bunker lag. Und ob er überhaupt existierte. Genaueres erfuhren wir nicht. Aussprechen und weitersagen durfte man damals nur das Allergewöhnlichste. Die Gerüchte blieben vage, die Informationen spärlich. Der Feind hörte mit. Überhaupt, der Feind. Er belauerte uns wie ein Schatten, der einen Schatten warf. Der Feind, wurde uns eingeschärft, rüste sich zum Sturmangriff. Der Feind kam aber nie aus seiner Deckung heraus, er blieb unsichtbar, und der Krieg ging weiter, ohne dass wir viel dazu beitragen konnten. Stell dir vor, es ist Krieg und der Feind ignoriert dich. Von irgendwoher hörten wir manchmal Geschützdonner, bedrohlich zwar, unheilkündend, aber nie ernsthaft alarmierend. Eines Tages nahm ich mein Gewehr, nahm eine getarnte Scharfschützenstellung ein und schoss mit Übungsmunition auf eine Vogelscheuche. Auch auf Bäume habe ich geschossen, ja mit Vorliebe auf Bäume: eine Kugel, die die Rinde durchschlägt, hinterlässt einen deutlichen Einschuss. Und je älter so ein Baum, desto tiefer steckt die Kugel im Holz.

Bevor Grossvater sein Glas neu auffüllte, zog er sich die Dächlimütze vom Kopf und legte sie ordentlich vor sich auf den Tisch. Am Nebentisch schob sich eine füllige Dame den Stuhl unter das Gesäss. Ihr Begleiter, ein hagerer Herr mit Sonnenbrille, hatte sich bereits hingesetzt und betrachtete missbilligend ein Mokkalöffelchen, das nicht abgeräumt worden war. Eines Tages schickte man mich als Späher zum Rhein hinunter, fuhr Grossvater fort. Die Bedrohungslage war zwar nicht mehr so akut wie auch schon. Die Maginotlinie - die chinesische Mauer der Franzosen - wäre uns beinahe zum Verhängnis geworden. Hätten sich die Deutschen für die südliche statt die nördliche Umgehungsroute entschieden, wäre die geballte teutonische Kriegsmaschinerie über Basel hergefallen und hätte spätestens in Binningen den Endsieg über die Eidgenossenschaft errungen. Da hatten wir noch einmal Glück gehabt! Und nun? Dass der Hitler seinen vielzitierten Handstsreich gegen die Schweiz doch noch ausführen würde, erschien uns nicht ganz unwahrscheinlich. Immerhin gehörte ihm schon halb Europa. Auch neutrale Länder wie Norwegen und Dänemark hatten dran glauben müssen. Wen hätte es erstaunt, wenn wir die Nächsten gewesen wären? Um allfällige Truppenverschiebungen melden zu können, bezog ich Stellung am Rheinufer. Ich legte mich in ein Gebüsch und visierte mit dem Feldstecher die Garnison einer deutschen Kleinstadt an. Die da drüben benahmen sich anscheinend völlig normal. Vor dem Eingangstörchen waren zwei Soldaten postiert. Hin und wieder machten sie ein paar Schritte in die eine oder andere Richtung und kehrten wieder zum Eingang zurück, wo sie sich an die Mauer lehnten, um eine Zigarettenpause einzulegen. Qualmend sahen sie in die Luft, wie um das Wetter zu prüfen. Irgendwann wurden sie abgelöst, und wiederum postierten sich zwei Soldaten vor der Garnison, patroullierten ein bisschen und lehnten sich an die Mauer, um sich Zigaretten anzustecken und in die Luft zu sehen. Ich begann mich zu langweilen. Bekam nun selbst Lust auf eine Zigarette. Eine Zwickmühle! Durch das Ausatmen von Rauch hätte ich mein Versteck verraten, meinen Beobachtungsposten musste ich geheimhalten, damit sich die Deutschen unbeobachtet wähnten und den entscheidenden Fehler machten, ihre invasorischen Absichten zu verraten. Also verkniff ich mir das Rauchen und hielt durch. Ich tat meine Pflicht, um vielleicht doch noch der Erste zu sein, der von einem deutschen Angriffsplan Wind bekäme. Stunden vergingen, Truppenbewegungen blieben aus, es war friedlich am Rhein. Die Sonne schien, und in den Bäumen zwitscherten die Vögel. Ich war schon nahe daran, wegzudösen, als einer der Soldaten ganz plötzlich ein Zeichen gab. Er winkte. Er winkte mir zu! Sofort war ich hellwach. Ich griff nach dem Feldstecher. Kein Zweifel, der Soldat meinte mich! Verärgert kroch ich aus meinem Versteck. Die Efeuranke, die ich mir um den Körper geschlungen hatte, entfernte ich mit meinem Taschenmesser. Ich fluchte leise vor mich hin. Meine Tarnung war aufgeflogen. Mit erhobener Faust rief ich zu denen da drüben: Sauschwobe! Als ich mich beruhigt hatte, setzte ich mich auf eine Bank und nahm einen Schluck aus meiner Feldflasche. Demonstrativ steckte ich mir eine Zigarette an. Qualmte genüsslich vor mich hin. Die Soldaten sahen beide in meine Richtung. Zwischen uns lag nur der Rhein und eine ungemähte Wiese. Diesmal war ich es, der winkte. Ich durfte das, wir Schweizer waren neutral. Die Deutschen winkten zurück. Sauschwobe! rief ich.

 

Gegen Abend braute sich ein Gewitter zusammen. Wie eine schwarze Wand schob es sich über die Vogesen und den Rheingraben. Blitze leuchteten auf. Die Vögel verstummten. Ich zog mein Velo aus dem Gras und schwang mich auf den Sattel. Als Hobby-Rennradler hoffte ich der Schnellere zu sein. Ich besann mich auf meine Beinkraft. Flitzte über Feldwege und in einen Wald hinein. Tannenäste streiften mich. Als ich kurz hochsah, spürte ich auf meiner Stirn ein Tröpfchen - und dann noch eins; und da begann es auch schon wie aus Kübeln zu regnen. Ich trat noch schneller in die Pedale. Kein Landregen hat mich je so durchnässt. Was da herabgeprasselt kam, war die Sintflut, zweite Auflage. Damals konnte es noch richtig regnen, nicht so wie heute. Ich lenkte mein Velo, leider zu spät, unter ein Eisenbahnviadukt, und während ich wartete, dass der Regen aufhörte, bemerkte ich etwas sehr Seltsames. Wolkenfetzen wirbelten hoch, andere sanken herab, und mitten in dieses Gebrodel stach ein Sonnenstrahl, fast waagrecht, ein grelles Licht, das den Berg vor mir anleuchtete wie ein Flakscheinwerfer. Für einen kurzen Moment traten Felsen und Bäume scharf umrissen hervor. Und da war auch etwas Eckiges, etwas, das von der ganzen übrigen Landschaft abstach. Auf einem Felssporn, umschwirrt von Buchfinken, hob sich - so überdeutlich wie auf einer Kinoleinwand - eine massive Mauer ab. Sie leuchtete goldgelb. Nun, was war das? Kannst du mir das sagen?

 

Ich nippte an meiner Ovo.

 

Ein Geheimnis, flüsterte Grossvater. Und mehr als das! Ein militärisches Geheimnis...

 

Der geheime Bunker? riet ich.

 

Der Grand Grind! bestätigte Grossvater. Er schlüpfte aus seinem abgetragenen Kittel und warf ihn über die Stuhllehne. Das Pärchen am Nebentisch blickte auf die schöne Juralandschaft und die fernen, dunstverhangenen Alpen, die wie Milchglas schimmerten. Mit einem Tablett voller Kaffeetassen kam die Wirtsfrau in den Garten heraus. An einer Kette an ihrer Schürze baumelte ein Bleistift. Grossvater räusperte sich. Zögernd nahm er den Faden wieder auf. Ja, was sagt man dazu? begann er, indem er auf den Tisch pochte. Der Grand Grind! Nicht dass ich das schon geahnt hätte. Ich war völlig ahnungslos. Ich war verwirrt. An den Grand Grind dachte ich nicht im entferntesten. Andächtig bestaunte ich eine Architektur, die nichts als ein Stück Natur sein wollte. Die Frontmauer - eine Felsattrappe - war riesig, und sie war perfekt in den Berg eingepasst. Leider hielt das seltene Wetterphänomen nicht allzu lange an. Der Lichtstrahl erlosch, und der geheimnisvolle Bunker entmaterialisierte sich im Bruchteil einer Sekunde wie ein Ufo. Durch den Feldstecher sah ich nur noch Kreten, Wald und Geröll. Hatte ich mich getäuscht? Der Regen hatte aufgehört, das Gewitter war vorüber. Ich schob mein Velo auf den matschigen Waldweg und fuhr dann im Slalom um die vielen Pfützen herum. Während ich, etwas wacklig, aber doch in anständigem Tempo, von einem Wegrand zum andern kurvte, stellte ich mir vor, die Pfützenlöcher seien durch den Einschlag von Mörsergranaten entstanden. Gleich anschliessend ging ich aufs Kompaniebüro, um Meldung zu erstatten. Was den befürchteten Aufmarsch der Deutschen an der Siegfriedlinie anging, so konnte ich Entwarnung geben. Im Norden nichts Neues, sagte ich. Alles im Butter, Herr Feldweibel. Die Sache mit dem Bunker behielt ich natürlich für mich. Der Feldweibel war erleichtert. Er lobte mich über den grünen Klee. Er schenkte mir ein Schnäpslein ein - und sich selbst natürlich auch. Er behandelte mich, als hätte  er die Absicht, mich in einer eminent wichtigen Sache ins Vertrauen zu ziehen. Und nachdem wir auch noch Duzis gemacht hatten, bekam ich von ihm ein Extrapöstchen offeriert, was fast einer Beförderung gleichkam. Die Abteilung für Militärkarten, witzelte er, sei nicht für Jasskarten zuständig. Da gebe es eine Menge zu tun. Die Karten müssten dringend mal in die richtige Ordnung gebracht werden. Und ich sei der richtige Mann dafür. Der richtige Mann, um Ordnung zu schaffen... Und so wurde ich zum Kartensortieren abbestellt. In einer Ecke des Büros stapelten sich ganze Packen mit Kommandokarten, Stabskarten, Lageplänen, Aufmarschplänen, strategisch-geografischen Planstudien und weiss der Teufel was für Karten und Kartenskizzen, die ich allesamt zu katalogisieren und in eine Hängeregistratur einzuordnen hatte. Ich machte mich an die Arbeit, und es war fast unvermeidlich, dass ich die eine oder andere Karte näher in Augenschein nahm. Es stach mich der Hafer. Gab es eine Karte, die das Geheimnis um meinen Bunker lüften konnte? Wenn es nicht Einbildung gewesen war, woran ich keinen Zweifel hatte, musste der Bunker doch irgendwo verzeichnet sein! Ich suchte vergebens. Einen Bunker dieser Grössenordnung fand ich da nirgends. Ich wusste: solche Verteidigungswerke gab es sonst nur in den Alpen. Aber immerhin konnte ich mit Hilfe des Materials, das ich hier greifbar hatte, den ungefähren Standort bestimmen. Das Gelände zeigte sich in der Aufsicht überraschend weiträumig. Die Luftlinie, das war der heikle Punkt. Womöglich hatte ich mich getäuscht, was die Entfernung anging. Die Flanke des Waldbergs, in die der Bunker eingelassen war, zog sich über etliche Kilometer hinweg, es gab da Einbuchtungen und Vorsprünge, und es war sehr wohl möglich, dass der Bunker viel, viel tiefer im Wald drin versteckt war, als es von unten den Anschein gehabt hatte.

 

Grossvater klapste sich auf den Hals, um eine fette Wirtshausfliege zu verscheuchen. Leicht beschämt, denn er konnte ja keiner Fliege was zuleide tun, beobachtete er, wie sich das Tierchen auf dem Tischtuch niederliess und sich dort in aller Seelenruhe die Vorderbeine und die Flügel putzte. Grossvater nahm einen Schluck aus seinem Mostglas und fuhr dann fort: beim Kartensortieren hatte ich viel Zeit zum Nachdenken. Die Tatsache, dass der Bunker auf keiner unserer Kommandokarten eingezeichnet war, liess nur einen einzigen Schluss zu...

 

Der Grand Grind! fiel ich ihm ins Wort.

 

Nicht so laut! mahnte mich Grossvater. Die Dame am Nebentisch schaute kurz zu uns herüber. Sie rührte in ihrem Kaffee. Sie hatte ein künstliches Süssungsmittel in die Tasse geträufelt, und während sie rührte, setzte sich die Wirtshausfliege auf den Henkel, nur um in der nächsten Sekunde ein Plätzen auf der Halbglatze des Mannes gegenüber der Frau zu suchen. Grossvater fiel in einen Flüsterton, der mich zum Mitverschwörer machte. Der Grand Grind! wisperte er. Den sollte es offiziell ja gar nicht geben. Wenn überhaupt jemand Kenntnis von seinem genauen Standort hatte, dann wahrscheinlich nur General Guisan persönlich. Der geheimste Bunker der Nordwestschweiz, und ich hatte ihn entdeckt! Ich durfte niemandem davon erzählen, das war mir klar. Ein falsches Wort, und ich wäre vielleicht vors Kriegsgericht gekommen. Zuerst wollte ich die Sache vergessen. Ich machte einen Sturmwaffenkurs, nur um auf andere Gedanken zu kommen. Aber meine Neugier gewann dann doch die Oberhand. Als ich ein paar Tage Urlaub hatte, packte ich mein Velo und fuhr zum Viadukt hinunter, in das Waldtal, wo ich den Bunker entdeckt hatte. Ich durchkämmte die Bergflanke von oben bis unten. Schliesslich stiess ich buchstäblich mit der Nase gegen die Bunkerwand. Ich war froh, dass ich es mit etwas Handfestem zu tun hatte. Also doch kein Phantom! Ein erstaunliches Gebilde, ganz aus Beton, die Wände massiv, druckfest, mit querstehenden Kanten, die tatsächlich an einen Grind erinnerten, einen kantigen Schädel. Weniger leicht als den Bunker fand ich den Einstieg. Es gab keine Tür. Es gab nur eine Wandöffnung für den Handgranatenauswurf. Dort quetschte ich mich hinein. Es war zapfenduster. Die Luft dumpfig und kühl. Ich rutschte abwärts, rutschte aus einer Wandöffnung wieder heraus. In einem Korridor mit graugrün gestrichenen Wänden tapste ich vorwärts. In einer Wandnische verlief ein Förderband für Munition. An der Decke eine tropfende Röhre und eine Glühbirne, die ein schwaches, unruhiges Licht verbreitete. Typisch Schweizer Armee: da baute man den raffiniertesten Bunker der Welt, aber die Beleuchtung hatte Wackelkontakt. Alles um mich herum flackerte. Das machte mich ganz schwindlig. Ich begann zu blinzeln, und ich blinzelte immer schneller, bis das Geflacker mit meinen Lidbewegungen synchron war. Ah, schon viel besser. Wenn man ganz schnell blinzelt, filtert das Gehirn die schwarzen Bilder heraus, und man sieht nur noch das Helle. Das nächste Problem betraf dann wohl eher die Nase. Aus irgendeinem Grund roch es stark nach Karbid. Oder nach etwas Ähnlichem. Ich nahm ein Taschentuch vors Gesicht, sah aber ein, dass diese Massnahme übertrieben war. Hinter meinem Mund- und Nasenschutz bekam ich kaum noch Luft. Lieber verstinken als ersticken, dachte ich. Und so stopfte ich das Taschentuch - ein Geschenk meiner Mutter mit meinen Initialen drauf - wieder in die Hosentasche. Ich kam zu einer Panzertür. Sie stand offen. Die Dreifach-Verriegelung mit Gummiabdichtung gewährleistete bombensicheren Schutz. Ich pfiff durch die Zähne. Als ich über die Schwelle trat, zog ich den Kopf ein. Den Helm hatte ich draussen beim Gepäck gelassen, und mein Käppi eignete sich schlecht als Stossdämpfer. Also blieb mir nichts anderes übrig, als mich zu bücken. Mit einer Zweimeter-Gestalt ist man als Schweizer ziemlich gefährdet. Man ist anfällig für Beulen. Ich trat in einen weiteren Stollen. Links und rechts zweigten unbeleuchtete Gänge ab. Ich kam an Türen vorüber, die mit sauber geschnittenen, sorgfältig aufgeklebten Schablonenbuchstaben beschriftet waren. Auf einer dieser Türen las ich die Buchstaben: MK - DÖG U. Nun, was sollte das wohl heissen? Kannst du mir das sagen?

 

MU - DOG U? fragte ich.

 

MK - DÖG U, korrigierte mich Grossvater.

 

Ich stellte den Ovobecher auf den Tisch. Langsam buchstabierte ich: MK - DÖG U. Ich grub meinen Zeigefinger ins Kinn, schüttelte den Kopf.

 

Nicht so schlimm, meinte Grossvater. Ich wusste es auch nicht. Ich konnte es nur vermuten. Das U stand vielleicht für Untergeschoss, MK für Munitionskammer oder Mannschaftskabine. Im Militär, sag ich dir, muss man aus Abkürzungen schlau werden, sonst ist man der Dumme. An einigen Türen riegelte ich herum, sie waren nicht aufzukriegen. Ich durchquerte einen Zwischenraum, der nichts als Röhren enthielt, und gleich darauf betrat ich ein Lager für Schrottteile und Proviantschachteln. Es roch nach Malzkaffee und gedörrten Früchten, geradezu wie in einem Dorflädeli. Ich stiess eine Tür auf und kam in ein Sanitätszimmer: Verbandsrollen auf sauberen Tablaren, und in der Mitte eine Liege mit einem Metalleimer für die amputierten Körperteile. Langsam begriff ich, dass der Bunker bestens gerüstet und voll in Betrieb war. Das hiess aber auch, dass hier jemand sein musste, der das alles in Schuss hielt und notfalls auch verteidigen konnte. In den Grand Grind passte ein ganzes Bataillon hinein, ja eine ganze Division. Unzählbare Soldaten, jeder an seinem Platz und bis auf die Zähne bewaffnet, konnten hier die Stellung halten. Ausharren. Dem Feind die Stirn bieten: den helvetischen Grind. Aber wo waren sie? Wo waren die Ameisen in diesem Bau? Die nächste Frage folgte auf dem Fuss. Falls ich erwischt wurde: wie konnte ich sie davon überzeugen, dass ich kein Landesverräter war? Ich schaute mich doch nur ein wenig um, das war alles, und ich tat es ganz fraglos zu meinem privaten Vergnügen. Ich war kein Spion. Sollte ich, um gar nicht erst erwischt zu werden, so tun, als wäre ich einer von ihnen? Ein Soldat des Grand Grind? Wie auch immer, ich machte kehrt und ging in den Stollen mit den beschrifteten Türen zurück. Da war sie wieder, die Tür mit den Buchstaben MK - DÖG U. Ich erschrak. Sie war aufgesperrt worden. Sie stand halb offen, sodass ich einen Blick in den dahinterliegenden Raum werfen konnte. Was ich da sah, war eine Frau. Sie sass an einem Pult. Im ersten Moment bemerkte sie mich nicht. Sie beugte sich über eine Aktenkladde und strich mit einem Bleistift irgendwelche Wörter und Zahlen an, die auf einer Liste standen. Sie war jung und trug eine schnittige Uniform, allerdings ohne Käppi. Als sich unsere Blicke trafen, zuckte sie zusammen und legte den Bleistift hastig zur Seite. Mit einer einzigen Handbewegung richtete sie ihr Haar, dann sprang sie auf und salutierte mit klackenden Absätzen. Mit zwei grossen Schritten war ich bei ihr. Lassen Sie das, befahl ich, ich bin kein Offizier... Ich deutete auf die Schulterpartien meiner Uniform. Sehen Sie? sagte ich. Einfacher Soldat. Ich habe mich nur verlaufen... Sie entspannte sich ein wenig, lächelte sogar. Sie streichelte die Schreibtischkante. Wir standen uns eine Weile schweigend gegenüber. Dann, als hätte uns jemand einen Schubs gegeben, kamen wir ganz plötzlich miteinander ins Gespräch. Wie sich herausstellte, war sie beim FHD, das ist die Abkürzung für den Frauenhilfsdienst. Sie überprüfe Soldlisten und Lebensmittelbestellungen, sagte sie. Na ja, das sei vielleicht nicht besonders aufregend, aber es müsse halt doch getan werden. Und warum in diesem Bunker? wunderte ich mich. Für den Krieg, sagte sie, sei der Grand Grind viel zu versteckt. Wegen seiner Bauweise sei er so gut wie unsichtbar, und im Gelände gebe es weder Türen noch sonstige Eingänge. Man betrete den Bunker durch ein Tunnelsystem, das unter dem Basler Münster seinen Anfang nehme. Dieser Eingang, verstehe sich von selbst, sei hochgeheim, eine Falltüre in der Krypta, von der nicht einmal der Pfarrer etwas wisse. Und deshalb, weil kein Feind diesen rundum geschützen und versteckten Bunker jemals ins Visier nehmen könne, habe man die unterirdischen Stollen und Räume dem FHD überlassen... Dann bleibe sie also hier, bis der Krieg vorüber sei, meinte ich bedauernd. Ja, sagte sie, es sei ihre Pflicht. Und nach dem Krieg? wollte ich wissen, was dann? Wenn es zurück ins ausserdienstliche Leben gehe? In den zivilen Alltag? Sie zuckte die Schultern. Ich trat noch näher an sie heran. Fragte nach ihrem Namen. Vreni, sagte sie. Sie heisse Vreni. Ich: angenehm, Gusti. Gusti Mägli. Ich räusperte mich. Ob ich sie, wenn das alles vorüber sei, ins Kino ausführen dürfe, stammelte ich, indem ich meinen ganzen Mut zusammennahm. Sie nickte. Sie lächelte mich an. Deine Grossmutter selig liebte das Kino.

 

Und dann? fragte ich.

 

Grossvater zückte sein Portemonnaie und winkte nach der Wirtsfrau. Meine Frage liess er unbeantwortet, und ich wusste auch warum: es juckte ihn in den Beinen. Er wollte nur noch losmarschieren. Fräulein! rief er. Endlich reagierte die Wirtsfrau. Sie kam an den Tisch, und Grossvater drückte ihr eine Zehnernote in die Hand. Das Herausgeld wies er zurück. Sie bedankte sich und wünschte uns einen schönen Tag. Ihnen auch, sagte Grossvater und griff nach seinem Kittel. Er wuchtete sich aus dem Stuhl, kämpfte sich in den Kittel hinein, machte am Rucksack die Schnallen fest, schlüpfte mit beiden Armen in die Riemenschlaufen und drehte die Dächlimütze so lange auf seinem Kopf herum, bis sie die Form des Schädels angenommen hatte. Ich war schon aufgesprungen. Ich wollte noch einmal den Hofhund streicheln, bevor wir von hier fortgingen. Grossvater liess mich gewähren. Ich hörte, wie er sich von den Leuten vom Nebentisch verabschiedete. Dabei kam er ein bisschen ins Plaudern. Die füllige Dame lachte mehrmals laut auf. Unterdessen leckte mir der Hofhund das Gesicht. Bald darauf marschierte Grossvater zielgerichtet über den Vorplatz und die angrenzende Wiese hinauf, und ich holte ihn mit fliegenden Beinen ein. Grossvater hatte Kräfte getankt. Er marschierte jetzt schneller als je zuvor.

 

2008